Rassismus: Sinti und Roma sind überall gefährdet
18. September 2023Sind 621 registrierte antiziganistische Vorfälle in einem Jahr eher viel oder wenig? Nimmt Gewalt gegen Sinti und Roma eher zu oder eher ab? Diese Fragen wird die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (MIA) frühestens im Jahr 2024 beantworten können. Denn die jetzt vorgelegte Bilanz ist eine Premiere. Im Unterschied zur 2021 veröffentlichten Bestandsaufnahme der Unabhängigen Kommission Antiziganismus will die MIA jedes Jahr einen Bericht herausgeben.
"Damit bringt die MIA Licht in ein nach wie vor sehr großes Dunkelfeld von antiziganistischen Straftaten und Vorfällen", schreibt der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, im Vorwort.
Sinti und Roma sind eine anerkannte nationale Minderheit. Seit rund 600 Jahren leben Sinti in Deutschland; ihre Zahl wird auf 70.000 bis 150.000 Menschen geschätzt. Die etwa 30.000 deutschen Roma leben seit dem Ende des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum.
Während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft waren die Sinti und Roma systematischer Verfolgung und Völkermord ausgesetzt, mit dem Ziel der Vernichtung. Hunderttausende Sinti und Roma wurden ermordet. Deshalb rührt die Erfahrung von Gewalt und Diskriminierung an ein tiefes Trauma, speziell wenn sie von staatlichen Behörden ausgeht. Und deshalb ist die Arbeit der vom Familienministerium geförderten Meldestelle so wichtig.
Manche Fälle landen in der BKA-Statistik
Alle Fälle von Diskriminierung oder Gewalt werden anonymisiert. Viele Meldungen stammen direkt von Betroffenen, manche sind außerdem in offiziellen Quellen wie der Statistik für politisch motivierte Kriminalität (PKM) des Bundeskriminalamtes (BKA) dokumentiert. Dazu zählt der im MIA-Jahresbericht 2022 einzige gelistete Fall von extremer Gewalt, der sich im Saarland ereignet hat:
"Aus zwei vorbeifahrenden Autos heraus wurde eine Personengruppe zuerst antiziganistisch beleidigt und anschließend mit einer Druckluftwaffe gezielt beschossen. Mehrere Personen erlitten Verletzungen. Eine potentiell schwerwiegende Verletzung der Personen wurde billigend in Kauf genommen."
Romani Rose beklagt zunehmenden Rechtsextremismus
Der MIA-Bericht zeige deutlich die Gefahren des zunehmenden Nationalismus und Rechtsextremismus auf, der auch wieder mit Aggression und Gewalt gegen Sinti und Roma, Juden und andere Minderheiten auftrete, schreibt Romani Rose im Vorwort. Der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma vermisst in der Gesellschaft "das immer noch fehlende Verständnis für die Erscheinungsformen und Wirkungsmechanismen von Antiziganismus".
Diese Form von Rassismus sei "nicht nur auf den Straßen, sondern auch in Behörden trauriger Alltag", heißt es im Bericht der Meldestelle. Jeder fünfte erfasste Fall habe einen Zusammenhang mit Kontakten zu staatlichen Behörden:
"Ein Jobcenter fordert mehrmals dieselben Dokumente und Belege an und fordert Unterlagen an, bei denen die betroffene Familie nicht versteht, warum sie angefordert werden. Das führte bereits zu einer Aussetzung der Leistung, bis die entsprechenden Dokumente beigebracht wurden. Die Mutter sagt, die Jobcentermitarbeiterin wisse, dass sie Roma sind, und behandle sie deswegen schlechter."
Wo beginnt institutionelle Diskriminierung?
Ob in solchen Fällen Absicht dahintersteckt oder nicht, ist schwer zu beurteilen. Das räumt auch das MIA-Team ein: "Anhand von einzelnen Fallmeldungen ist es nicht immer möglich zu unterscheiden, inwiefern die Diskriminierung auf institutionelle Praktiken zurückzuführen ist und inwiefern das individuelle Handeln diskriminierungsverstärkend wirkt."
Keine Zweifel an vorsätzlicher Diskriminierung sowie einen Verstoß gegen geltendes Recht gibt es bei einem Fall, der bis ins Jahr 2021 zurückreicht. Damals wurde in Süddeutschland ein elfjähriger Sinto bei einer anlasslosen Personenkontrolle von der Polizei überprüft. Ein gefundenes kleines Klappmesser war der Grund dafür, ihm Handschellen anzulegen, ihn gewaltsam in den Einsatzwagen zu setzen und auf die Polizeiwache mitzunehmen.
Hinweise auf das Alter des Jungen seien ignoriert worden, seine Eltern durfte er nicht benachrichtigen. Nach einer halben Stunde im Verhörraum wurde das Kind frei gelassen. Die Familie zeigte die verantwortlichen Beamten an und gewann 2022 den Prozess. Wegen gemeinschaftlicher Freiheitsberaubung wurden die Polizisten zu einer Geldstrafe in Höhe von 3600 Euro verurteilt.
Warum das Wort "Zigeuner" im MIA-Bericht vorkommt
Der MIA Bericht scheut sich in seiner Bestandsaufnahme nicht, auch einen schwer belasteten Begriff abzudrucken. "In unserem Bericht verwenden wir an einigen Stellen den Begriff des 'Zigeuners'. Diese antiziganistische Fremdbezeichnung hat bis heute viel Leid, Gewalt und Ausgrenzung verursacht. Wir verwenden den Begriff daher so wenig wie möglich und ausschließlich in Anführungsstrichen", erläutert das MIA-Team seine Entscheidung. Sinti und Roma haben sich selbst nie "Zigeuner" genannt. Der Begriff ist mit bösartigen Vorurteilen und rassistischen Zuschreibungen aufgeladen, zugleich aber auch mit romantischen Klischees.
Mit den Anführungsstrichen solle zum Ausdruck gebracht werden, dass es sich bei dieser Bezeichnung und den dahinterstehenden antiziganistischen Vorstellungen und Vorurteilen um eine Konstruktion der Mehrheitsgesellschaft handele, schreiben die MIA-Autoren.
"Die Lehrkraft schaut weg"
"Bei vielen von uns dokumentierten Vorfällen findet der Begriff noch immer Verwendung und die Darstellung dieser verbalen antiziganistischen Ausfälle und Angriffe ist leider nicht gänzlich ohne den Begriff selbst möglich." Im MIA-Bericht wird ein konkretes Beispiel geschildert:
"Eine Sintezza (12 Jahre) wird von einer Mitschülerin als 'dreckige Zigeunerin' beschimpft und an den Haaren über den Schulhof geschleift. Ihre Hose geht dabei kaputt und das Knie ist blutig. Die Lehrkraft schaut weg und meint anschließend, sie solle sich nicht so anstellen."