2. August: Gegen das Vergessen!
2. August 2022"Die Gedenkstätte in Auschwitz-Birkenau zu besuchen, ist wichtig für alle, nicht nur für die Nachfahren der Opfer", davon ist die schwedische Politikerin und Roma-Menschenrechtsaktivistin Soraya Post überzeugt. Die ehemalige Europaabgeordnete erinnert sich im Gespräch mit der DW noch genau an ihren ersten Besuch dort: "Ich fühlte mich so schmutzig. Mein Herz hat in diesem Moment meinen Körper verlassen. Ich machte ein paar Schritte, aber ich konnte kaum gehen. Da war einfach nicht genug Würde in mir, um mich auf diesem Boden zu bewegen. Ich hörte Stimmen in meiner Fantasie und ich fühlte Schmerz."
Anfang August 1944 waren noch 4300 Sinti und Roma im Lager B II übriggeblieben. Die meisten davon waren Frauen, Kinder, Alte und Kranke. Sie alle wurden von den Nazis in der Nacht des 2. August in den Gaskammern ermordet. Dies war der letzte Akt einer geplanten Vernichtungsaktion aller Menschen, die im so genannten "Zigeunerlager" inhaftiert waren. Zweieinhalb Monate vorher, am 16. Mai 1944, hatten sich tausende Sinti und Roma im Lager verbarrikadiert und konnten so zumindest erreichen, dass an jenem Tag der Plan der SS nicht aufging. Später wurden alle noch zum Widerstand fähigen Menschen in andere Lager gebracht, um schließlich die in Auschwitz Verbliebenen auszulöschen.Insgesamt fielen 500.000 Roma und Sinti dem nationalsozialistischen Rassenwahn zum Opfer. Dieser Genozid wird von Sinti und Roma als "Porajmos" bezeichnet, was auf Romanes so viel bedeutet wie "Verschlingung" oder "Zerstörung". Im Jahr 2015 erklärte das Europäische Parlament den 2. August zum Europäischen Gedenktag für die ermordeten Roma und Sinti.
"Wenn wir hassen, verlieren wir!"
Um an diese Verbrechen zu erinnern und Bewusstsein in der Gegenwart zu schaffen, sei es besonders für junge Menschen wichtig, diese Gedenkstätte zu besuchen - auch wenn diese Erfahrung durchaus schmerzhaft sein kann, sagt Soraya Post. Es sei eine Erfahrung, die jeder Mensch machen sollte: "Der Besuch dieser Gedenkstätte verändert die Art und Weise, wie man die Menschheit sieht. Es macht uns bewusst, wozu Menschen fähig sind, wie böse sie sein können und wie einfach all dies passieren kann."
Eine heute noch aktive Zeitzeugin in Deutschland ist Philomena Franz, die erst vor kurzem ihren 100. Geburtstag gefeiert hat.Trotz der Verfolgung und Diskriminierung, die sie erlebt hat, trotz der Ermordung ihrer Familie in deutschen Konzentrationslagern hat Hass keinen Platz in ihrem Leben, sagt die Sintizze in einem beeindruckenden DW-Porträt: "Warum soll ich hassen? Soll ich weitermachen, was die anderen gemacht haben? Ich kann nicht hassen! Wenn wir hassen, verlieren wir. Die Liebe ist eine große Bereicherung für uns Menschen. Wenn wir die Liebe nicht haben, geben wir unseren Geist auf und die Tugend. Und dann sind wir verloren."
Heute müssen Roma - darunter auch Zeitzeugen - wieder um ihr Leben fürchten - in der Ukraine, sagt die junge Ukrainerin Natali Tomenko, Vorsitzende der Roma-Jugendorganisation ARCA: "Es ist schmerzhaft, das Trauma von Holocaust-Überlebenden zu sehen, die damals gelitten haben und heute in der Ukraine wieder um ihr Leben fürchten müssen." ARCA hat zusammen mit der Initiative "Dikh He Na Bister" ("Schau hin und vergiss nicht") sowie dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma ein Hilfs-Netzwerk gegründet, um diesen Menschen zu helfen. Natali Tomenko hat auch bei der Gedenkveranstaltung in Auschwitz-Birkenau darüber gesprochen.
Gedenkfeiern in Polen und Deutschland
In diesem Jahr haben der Ministerpräsident Thüringens und amtierende Bundesratspräsident, Bodo Ramelow, sowie der Antiziganismusbeauftragte der Bundesregierung, Mehmet Daimagüler, die Gedenkveranstaltung in Auschwitz-Birkenau besucht. Ramelow dankte in seiner Ansprache dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma für dessen wichtige Erinnerungsarbeit und das entschiedene Eintreten gegen jede Form von Antiziganismus: "Nur wenn man aus der Vergangenheit lernt, kann man die Zukunft gestalten", sagte der Bundesratspräsident.
Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, warnte in seiner Rede, dass die Errungenschaften der offenen demokratischen Gesellschaft durch spalterische Hetze gegen Minderheiten derzeit zunehmend infrage gestellt würden. Antisemitismus und Antiziganismus führten wieder dazu, dass Menschen mit dem Leben bedroht seien, gerade in den Ländern Südost- und Mitteleuropas, wo viele Roma in menschenunwürdigen und apartheidähnlichen Strukturen zu leben gezwungen seien: "Wir als Europäer müssen uns gegen solche Versuche der Spaltung geschlossen zur Wehr setzen", unterstrich Rose.
Der Holocaust-Überlebende Christian Pfeil, der in einem Nazi-Lager geboren wurde, richtete seine Ansprache insbesondere an die junge Generation: "Es gibt immer wieder verrückte, besessene und fanatische Leute, die andere Menschen verachten. Die andere Menschen wegen ihrer Hautfarbe, Nationalität oder wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Minderheit verfolgen oder sogar umbringen. Rassistische Tendenzen gibt es heute in ganz Europa. Deswegen braucht es Mut. Deswegen müsst ihr euch stark machen für die Demokratie - und Antiziganismus, Antisemitismus und Rassismus entschieden widersprechen."
Dank einer Initiative des internationalen Roma-Jugendnetzwerks TERNYPE gedachten 150 junge Menschen aus ganz Europa in Auschwitz gemeinsam mit den Zeitzeugen und Vertretern aus Politik und Gesellschaft der Opfer des Genozids.
Die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, die Hildegard-Lagrenne-Stiftung, RomaTrial und RomnoKher haben gemeinsam zu einer Stunde des Gedenkens am Berliner Mahnmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas aufgerufen.
"Djelem Djelem" in Dortmund
In Dortmund startete am 2. August ein beachtliches Programm mit der Gedenkveranstaltung "Kein Vergessen". Abends folgte ein interkultureller Dialog mit Musik bei der Veranstaltung "Heu Men Hi" ("Wer wir sind") mit Performances von Melanie Terres, Guyltekin Ivanov, Nancy Black und Taylor Swing im Biercafe-West.
Darüber hinaus hisste die Stadt - zumindest digital - die Fahne der Roma und Sinti am Turm des Dortmunder Museums "U" und leitete damit das "Djelem Djelem"-Festival ein, das vom 2. bis zum 20. August 2022 Kunst, Kultur und Workshops aller Art anbietet. Das Festival wird in diesem Jahr in einer Zusammenarbeit von Save Space e.V, AWO Dortmund, Romano Than und Cirikli e.V. mit der Stadt Dortmund sowie dem Europäischen Roma-Institut für Kunst und Kultur (ERIAC) veranstaltet.