Till Lindemann wird 60
4. Januar 2023Das kann Till Lindemann einfach gut - schockierende Texte verfassen, die hinter ihrer Brutalität eine Botschaft verstecken. Wer das nicht erkennt, dürfte sich erst mal angeekelt wegdrehen und sich fragen, was für ein Mensch sich solche Zeilen ausdenkt. Doch genau damit erreicht er mit seiner Band Rammstein ein Millionenpublikum auf der ganzen Welt.
Darunter ist auch ein anonym bleibender Künstler, der sich Roxxy Roxx nennt. Als Geschenk für den Rockstar erschuf er eine Statue, die er am Vorabend des 60. Geburtstags in jenem Rostocker Stadtteil aufstellte, in dem Lindemann als Kind gelebt hatte.
Wie die Polizei bestätigte, wurde das informelle Kunstwerk am 4. Januar 2023 gestohlen. Gegenüber der Bild-Zeitung sagte der Künstler: „Leider wurde Till bereits gestohlen. Ich hatte damit gerechnet, aber meine Hoffnung war, dass er wenigstens über seinen Geburtstag stehen bleibt.“
Vom Wasser auf die Bühne
Am 4. Januar 1963 kommt Rammsteins Frontsänger in Leipzig zur Welt. Seine Liebe zu Texten manifestiert sich schon früh: So bringt er bereits mit neun Jahren folgendes kurzes Gedicht zu Papier: "Er knackt einfach jede Nuss, und die nicht will, muss."
Als Jugendlicher wird er zum erfolgreichen Leistungsschwimmer. Er soll 1980 für die DDR an den Olympischen Spielen teilnehmen, allerdings hatte er während der Junioren-EM 1978 heimlich Kontakte mit West-Sportlern und so wurde ihm die Olympiateilnahme verweigert.
In den 1980ern entdeckt er seine Liebe zur Musik - vor allem der des DDR-Undergrounds. In seiner ersten Band "First Arsch" spielt er Schlagzeug und singt. An den Gitarren: die späteren Rammstein-Musiker Richard Kruspe und Paul Landers. Der Sound von Rammstein ist hier schon zu ahnen: Fette Gitarrenbretter und darüber Tills beschwörender Gesang, auf Englisch. Es vergehen noch ein paar Jahre, bis sich alle Rammstein-Musiker finden und sich für ihren musikalischen Weg entscheiden: simpel, martialisch, herausfordernd und brutal.
Musikexpress: "Deutschnationaler Proletenrock"
Lindemann versieht die Stücke mit seinen Texten und trägt sie mit tiefer Stimme gurrend oder röhrend vor. Sein gerolltes "r" wird zu seinem Markenzeichen. Die erste Platte "Herzeleid" kommt 1995 und springt mehrmals in die Top Ten der deutschen Charts. Das Plattencover aber polarisiert. Die sechs Musiker sind mit eingeölten nackten Oberkörpern abgebildet. Die Medien stören sich daran, manche Zeitungen schreiben, die Rammstein-Musiker würden sich hier als "Herrenmenschen" (im Nationalsozialismus eine "Menschenrasse", die glaubt, anderen überlegen zu sein) darstellen.
Der Inhalt der Platte wird ebenfalls von einigen Zeitungen zerrissen, so schreibt das Magazin Musikexpress/Sounds: "Abgesehen davon, dass deutschnationaler, stampfender Proletenrock mit ausgeprägtem Crossover-Potenzial noch nie besonders einladend klang, macht vor allem ein Umstand die Band unerträglich: ihre von (…) dumpfen Gewaltmetaphern und schockierenden Gewaltaussagen gespickten Texte."
"Liebe" ist Lindemanns Lieblingswort
Till Lindemann wehrt sich in den Interviews, die er zu jener Zeit noch gibt, gegen den Nazi-Vorwurf und dagegen, dass man der Band ständig Tabubrüche unterstellt. Eigentlich ginge es gar nicht um so viele Tabus, sondern eher um Liebe in allen Varianten, um die schönen Seiten und um die Schattenseiten, die es nun mal auch gebe, sagt Lindemann 1997 dem deutschen Musik-TV-Sender VIVA. So ist es kein Wunder, dass das Wort, das am häufigsten in Rammstein-Liedern vorkommt, "Liebe" ist. Der Kontext, in dem es benutzt wird, ist aber selten liebevoll. "Meine Mühe bei der ganzen Sache ist eigentlich eine krasse Aussage zu machen irgendwo, aber sie zu umschreiben mit Allegorien irgendwie, also so ein bisschen verblümt wie die alten 60er Jahre-Schlager waren, also 'ich bleibe heute Nacht bei dir', aber eigentlich weiß jeder, dass sie beide richtig rumf***n."
Und so kokettieren Lindemann und seine Rammsteinkollegen immer weiter mit Grenzüberschreitungen, vermeintlichen Tabubrüchen und Zweideutigkeiten - von Platte zu Platte, von Tour zu Tour. Das martialisch-Deutsche mag in Deutschland vielerorts merkwürdig aufstoßen, aber im Ausland wird die Band geliebt. Und auch hierzulande wächst die Fangemeinde.
Keine Rammstein-Show ohne Feuersäulen und Flammenwerfer
Lindemann gibt immer seltener Interviews. Aber auf der Bühne gibt er Vollgas. Er schlüpft in die irrsinnigsten Kostüme, lässt sich brutal schminken; in der Rolle des fleischgewordenen Albtraums geht er auf. Wenn er gerade nichts zu tun hat, macht er Feuer. In einem Interview mit einem schwedischen TV-Sender sagt er 1997, warum: "Zwischen meinen Strophen und Refrains langweile ich mich sonst. Ich kann auch nicht tanzen. So habe ich mit der Pyrotechnik angefangen."
Nachdem es zu mehreren Unfällen gekommen ist, lässt Lindemann sich schließlich zum Pyrotechniker ausbilden und lebt dies bis heute voll auf der Bühne aus. Bei einem Rammstein-Konzert sprühen immer wieder Feuersäulen in die Höhe, und auf der Bühne werden Flammenwerfer gezündet. Bei dem Lied "Rammstein" spritzen Feuerstrahlen aus Lindemanns Rücken.
Soloprojekt "Lindemann" mit Peter Tägtgren
Wenn Rammstein Pause macht, ist Till Lindemann weiter umtriebig. 2015 tut er sich mit dem schwedischen Metaller Peter Tägtgren zusammen - heraus kommt das Album "Skills in Pills". Lindemann singt mit seiner bekannten Rammstein-Stimme. Auf Englisch mit einem starken deutschen Akzent. Die Texte sind - wie gehabt - harter Tobak.
Herz, Schmerz, Blut, Fleisch, Sex, Tod und Tränen; Nekrophilie, Vergewaltigung und andere Abgründe menschlichen Daseins - das sind die Welten, die Till Lindemann heraufbeschwört. In seinen Texten schlüpft er in die Rollen der Freaks, die unsere Welt bevölkern und provoziert als Kinderschänder, Mörder oder Psychopath. "Je mehr sich Leute darüber aufregen, desto mehr spornt mich das an, noch schlimmer zu dichten", sagt er in einem Interview mit der Tageszeitung "Die Welt".
2019 erscheint die zweite Lindemann/Tägtgren-Kooperation "F & M" - auf Deutsch.
Lindemann und Russland
Unabhängig von seiner musikalischen Arbeit verfasst Lindemann Gedichte. 2002 erscheint sein erster Gedichtband "Messer"; der zweite, "In stillen Nächten", folgt 2013. Auch bei Lindemanns geschriebener Lyrik scheiden sich die Geister. Von "erbärmlich und widerlich" bis hin zu "besonders lesenswert". Interessierte können sich in verschiedenen Sprachen ein Bild von Lindemanns Lyrik machen; die Gedichte sind in mehrere Sprachen übersetzt worden - auch ins Russische.
In Russland existiert eine der größten Rammstein-Fangemeinden. Jahrelang hat Till Lindemann eine gute Beziehung zu Russland. Er dreht Musikvideos zu seinem Soloprojekt in Moskau und St. Petersburg. Und er singt bei einem Militärmusikfestival auf dem Roten Platz in Moskau das Heldenlied "Lubimiy Gorod" (deutsch: "Lieblingsstadt") vor einem "begeisterten Publikum", wie russische Medien berichten. Der Krieg in der Ukraine ändert das bis dahin herzliche Verhältnis. Lindemann sagt alle seine Russland-Konzerte ab.
Amazonas-Expedition und ein Schlager für Roland Kaiser
Eine lange Freundschaft verbindet Lindemann mit dem Extremsportler Joey Kelly. Mit ihm zusammen bereiste er 2017 auf einem Kanu den Yukon in Alaska und 2020 auch den Amazonas. Dabei herausgekommen sind zwei Fotobände, die in dramatischen Bildern von Natur und zwei Männern, die sie bezwingen, erzählen.
Für einen weiteren Freund schreibt er 2014 ein Lied: Es ist der Schlagersänger Roland Kaiser, der Lindemann darum bittet. Lindemann liefert ab. Liest man nur den Text mit dem Wissen, dass er von Till Lindemann stammt, ist der Gänsehautfaktor da. "Ich weiß, dass du weißt, dass ich alles von dir weiß." Roland Kaiser nimmt dem Text seinen Schrecken, weil er ein Schlagersänger ist und das Lied entsprechend singt. Mit der französischen Sängerin Zaz hat Lindemann 2021 "Le Jardin des Larmes", eine traurige Ballade über Liebe und Tod, eingesungen.
Für Rammstein ist die Zeit noch nicht um
2022 schließlich kommt mit "Zeit" ein neues Rammstein-Album heraus. Fans fürchten, es würde das letzte sein; viele der Lieder klingen nach Abschied und Vergänglichkeit. Ganz ohne deftigen Humor kommt aber auch dieses Album nicht aus, wie in Songs wie "Dicke Titten" und "Zick Zack" deutlich zu vernehmen ist.
Trotz Liedzeilen wie "Man soll gehen wenn es am schönsten ist" oder des Liedes "Adieu" ist bisher bei Rammstein nicht von Abschied die Rede. Denn die seit 2019 mit Unterbrechungen andauernde Stadion-Tour ist noch nicht vorbei, sie führt Lindemann und seine Band noch bis August 2023 quer durch Europa. Mit dem "Zeit"-Album kann sich Till Lindemann zum 60. Geburtstag ein Krönchen aufsetzen. Es ist das meistverkaufte Album des Jahres 2022 in Deutschland.
In der Arts Unveiled-Folge "Why Rammstein is so controversial" des DW History and Culture Youtube-Channels erfahren Sie mehr über die umstrittene Band Rammstein.