Wie weiter in Kasachstan?
13. Januar 2022Kasachstan kommt nach den Protesten langsam wieder zur Ruhe, sagen Beobachter vor Ort, mit denen die DW gesprochen hat. Auch in Almaty, der größten Stadt des Landes und Epizentrum der Proteste, fließt der Verkehr normal und die Geschäfte sind geöffnet. In den Straßen sind jedoch bewaffnete Soldaten und militärisches Gerät zu sehen.
Insgesamt herrscht im Land aber weiterhin Anspannung. Die Kasachen sind um die soziale und wirtschaftliche Situation besorgt. Sie fragen sich, welche Maßnahmen die Regierung ergreifen wird und wie es mit den Truppen des von Russland geführten Militärbündnisses "Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit" (OVKS) im Land weitergehen soll.
Zu diesen Fragen hatte sich Präsident Kassym-Schomart Tokajew in einer Rede an das Volk geäußert. "Er sprach über soziale Ungleichheit und die Notwendigkeit, dieses Problem zu lösen, aber auch über oligarchische Wirtschaftsstrukturen", sagt Jewgenij Schowtis, der in Almaty lebt und das Kasachische Büro für Menschenrechte leitet.
Er betont, eine Reihe monopolistischer Unternehmen, die Tokajew erwähnt habe, würden der Familie von Nursultan Nasarbajew gehören, der von 1990 bis 2019 der Präsident Kasachstans war. Schowtis findet, die jüngsten Ereignisse würden Tokajew ermöglichen, seine eigene Position zu stärken, aber auch Reformen anzukündigen, darunter beim Kampf gegen Korruption und zur Stärkung des Staatsapparates. Das habe seine Rede deutlich gemacht.
Auch der in Almaty lebende Wirtschaftsbeobachter Sergej Dominin meint, Tokajew habe zu verstehen gegeben, dass Nasarbajew es in den vergangenen 30 Jahren vielen ermöglicht habe, ein Vermögen anzuhäufen. Doch nun sei die Zeit gekommen, dass diese Menschen dem Volk helfen müssten. "Vielleicht wird dies in Form einer Übergabe der Kontrolle oder durch die Beschlagnahme gewisser Mittel erfolgen, die dann für den Wiederaufbau der Wirtschaft von Almaty und anderer Regionen verwendet werde sollen, die während der Proteste besonders hart getroffen wurden", so Dominin.
Was hat die Proteste ausgelöst?
Die Proteste in Kasachstan begannen, nachdem bekannt geworden war, dass die Preise für Flüssiggas angehoben wurden. "Wir beobachten, dass derzeit ein Narrativ geschaffen wird, das die Behörden präsentieren und mit dem Tokajew und sein Umfeld die kasachische Gesellschaft überzeugen wollen", so der wissenschaftliche Mitarbeiter des Moskauer Carnegie-Zentrums, Temur Umarow. Ihm zufolge lautet die offizielle Position: "Die Hauptschuldigen sind Terroristen, die mit äußeren Kräften in Verbindung stehen. Ihnen helfen direkt oder indirekt, bewusst oder unbewusst, Angehörige der politischen Eliten in Kasachstan."
Der Menschenrechtsaktivist Jewgenij Schowtis hingegen glaubt nicht an eine ausländische Spur. "Man muss wissen, wohin die Spur konkret führt: nach Syrien, Afghanistan, in die Ukraine oder Frankreich, wo sich unsere Oppositionellen befinden. Und wie konnte das alles passieren, ohne dass der kasachische Geheimdienst das mitbekommen hat?"
Schowtis betont, dass die Proteste sehr vielschichtig waren. Begonnen habe alles mit sozialen und wirtschaftlichen Parolen. Den Demonstranten hätten sich dann Vertreter der politischen Opposition und unzufriedene Arbeiter angeschlossen, die über die Preissteigerungen wütend sind. "Das weitete sich auf das ländliche Hinterland aus, auch auf junge Menschen und Leute, die besonders von der Corona-Pandemie betroffen sind", erläutert Schowtis das Geschehen.
Schließlich seien noch Islamisten hinzugekommen, die im Westen des Landes und teilweise in Almaty gesehen worden seien. Zudem hätten auch bewaffnete kriminelle Gruppen gewütet, die verschiedenen lokalen und regionalen Eliten nahestehen.
War es ein versuchter Putsch?
Präsident Tokajew sprach in seiner Rede von einem versuchten Staatsstreich, der geplant worden sei. Damit ist Temur Umarow vom Moskauer Carnegie-Zentrum nicht einverstanden. "Wenn wir uns ansehen, was in anderen Ländern geschah, beispielsweise in Kirgisistan, da gab es Scharen bewaffneter Menschen, die Objekte der Staatsmacht in der Hauptstadt besetzen wollten. Was wir in Kasachstan gesehen haben, sieht nicht nach einem Putsch aus", so Umarow. Ihm zufolge passierte dort alles abseits der Hauptstadt und sah auch nicht nach einer organisierten Kampagne gegen die jetzige Staatsführung aus.
Der Experte ist überzeugt, das Narrativ eines Putsches sei erfunden worden, um das harte Vorgehen gegen die Demonstranten und den kasachischen Ruf nach Entsendung von OVKS-Kräften im Nachhinein zu rechtfertigen. Doch Beweise für einen Putsch hätten die Behörden bisher nicht vorgelegt.
"Für Terrorismus als offizielle Version hat man sich bewusst entschieden. Er gilt als das ideale Übel für alle: für den Westen und für China, für Russland und auch für das heimische Publikum", sagt Umarow. Da die Terroristen im Untergrund operieren würden, dürften die Behörden nach eigenen Angaben keine Details preisgeben. Gleichzeitig würden sie aber, so Umarow, Andeutungen in Richtung Afghanistan machen.
Was passiert mit den OVKS-Kräften?
Die OVKS-Mission in Kasachstan sei abgeschlossen, versicherte Präsident Tokajew. Der Abzug der Truppen beginne am 13. Januar und solle nicht länger als zehn Tage dauern. Temur Umarow meint, die Entsendung der Truppen während der Proteste habe eher symbolischen Charakter gehabt.
"Erstens sollte dies demonstrieren, dass Moskau über alles Bescheid weiß, was innerhalb der kasachischen politischen Eliten passiert. Zweitens sollte dies zeigen, dass Russland auf der Seite der legitimen Regierung steht. Und drittens sollte dies das offizielle Narrativ bekräftigen, wonach es sich um eine Bekämpfung von internationalem Terrorismus und nicht um einem Konflikt innerhalb der kasachischen Eliten handelt", so der Experte.
Jewgenij Schowtis glaubt auch, dass eher politische Erwägungen und weniger Sicherheitsprobleme für den OVKS-Einsatz ausschlaggebend waren. "Diese Truppen sind am Schutz von Infrastruktur-Objekten beteiligt", so Schowtis. Ihm zufolge soll dies anderen Teilen der herrschenden Elite signalisieren, dass Tokajew über genügend Ressourcen verfügt und vom russischen Staatschef Wladimir Putin unterstützt wird.
Eine langfristige Präsenz von OVKS-Truppen würde, so der Wirtschaftsbeobachter Sergej Dominin, Fragen bei der Bevölkerung aufwerfen. "Die kasachischen Behörden verfügen heute über genügend Ressourcen und Mittel, und vor allem auch über politischen Willen. Die OVKS-Truppen werden nicht mehr benötigt", meint der Experte.
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk