Deutschland: Rekord bei politisch motivierter Kriminalität
21. Mai 2024"Politisch motivierte Kriminalität" (PMK) heißt die gemeinsam vom Bundesinnenministerium und Bundeskriminalamt (BKA) jährlich veröffentlichte Bilanz von Straftaten, die einen gesellschaftspolitischen oder religiösen Hintergrund haben. Mitunter kommt beides zusammen - und das gilt dieses Mal besonders. Der Grund: Die auch in Deutschland zu spürenden Auswirkungen des Terror-Überfalls der radikal-islamischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und der sich anschließende Krieg im Gaza-Gebiet.
"Die Lage in Nahost hat auf allen Ebenen unmittelbaren Einfluss auf das Radikalisierungsgeschehen in Deutschland - mit zunehmenden antisemitischen Einstellungen, Straßenprotesten und steigender politisch motivierter Kriminalität. Das Eskalationspotenzial ist groß." So fasst BKA-Präsident Holger Münch die Entwicklung zusammen, als er mit Innenministerin Nancy Faeser in Berlin die Fallzahlen für 2023 präsentiert.
Mehr als 60.000 politisch motivierte Straftaten erfasst
"Diejenigen, die in unserer Gesellschaft Wut und Hass säen, sind lauter geworden. Der Hass im Netz ist weiter explodiert", sagt die Sozialdemokratin Faeser (SPD). Erstmals ist die Gesamtzahl aller erfassten Delikte auf mehr als 60.000 gestiegen - eine Steigerung von rund 1100 Taten gegenüber 2022 und mehr als doppelt so viele wie zehn Jahre zuvor.
Die meisten erfassten Straftaten waren sogenannte Propagandadelikte. In der aktuellen Statistik machen sie rund ein Drittel aus. Darunter fällt insbesondere das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, wie das Hakenkreuz der Nationalsozialisten. Volksverhetzung, Beleidigungen und Sachbeschädigungen schlagen statistisch mit Werten zwischen knapp 13 und gut 15 Prozent zu Buche.
Weniger Gewalttaten nach dem Ende der Corona-Pandemie
Auffällig: Die Zahl der Gewalttaten sank um knapp zwölf Prozent auf 3561. Für BKA-Chef Münch ist das keine Überraschung. "Der Grund dafür ist, dass 2022 noch viele Delikte noch im Zusammenhang mit den sogenannten Corona-Protesten geschehen sind." Doch seit dem Ende der staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie habe auch das Protest-Geschehen stark abgenommen.
Die größte Gefahr geht weiterhin vom Rechtsextremismus aus: Fast die Hälfte aller Straftaten geht auf das Konto dieses auch besonders gewalttätigen Milieus. "In keinem anderen Bereich ist die Opferzahl so hoch", betont Innenministerin Faeser. Große Sorgen bereiten ihr vor allem die Angriffe auf Amts- und Mandatsträger. Davon sind alle Parteien betroffen, auch die vom Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall beobachtete Alternative für Deutschland (AfD).
Faeser: Rechter Rand schürt Klima der Gewalt
Für Entsetzen sorgte vor wenigen Wochen der Überfall auf den Europawahl-Kandidaten Matthias Ecke in Dresden. Der SPD-Politiker wurde dabei schwer verletzt. Faeser hat sich vor kurzem mit ihm getroffen. "Er hat sich nicht einschüchtern, nicht mundtot machen lassen. Wie so viele, die Anfeindungen erleben und stark bleiben. Und zwar egal, wer: ob von den Grünen, von der SPD oder AfD."
Die Innenministerin lässt aber auch keinen Zweifel daran, wo sie die geistigen Brandstifter für politische Gewalt gegen Politikerinnen und Politiker sieht: "Diejenigen vor allem am rechten Rand, die mit völlig enthemmten Anfeindungen ein Klima der Gewalt schüren, tragen dafür erheblich Mitverantwortung." Zugleich gibt sich Faeser kämpferisch: Es gilt, die von politisch motivierter Kriminalität Betroffenen zu schützen: Menschen, die Rassismus, Judenhass, islamistische Gewalt, Rechtsextremismus und Linksextremismus zu spüren bekommen."
Verstärkt im Blick: Islamismus und Linksextremismus
Das seien Taten, die sich gegen die offene und freiheitliche Gesellschaft richteten, sagt die Innenministerin. "Es sind Taten, die sich vielfach gegen die Menschenwürde richten und gegen unsere Demokratie." Mit Blick auf die islamistische Szene sagt die Innenministerin: "Wir setzen alle Instrumente ein - von der nachrichtendienstlichen Beobachtung bis hin zu intensiven Ermittlungen. Unsere Sicherheitsbehörden haben auch in den letzten Monaten mehrfach frühzeitig zugeschlagen, um Anschläge zu verhindern."
Aber auch das linksextremistische Milieu gerät zunehmend ins Visier der Sicherheitsbehörden. Jeder vierte Linksextremist sei laut Faeser als gewaltorientiert einzuschätzen. "Die Hemmschwellen sind gesunken, mit äußerster Brutalität politische Gegner und Polizeibeamte im Einsatz zu attackieren."
BKA-Präsident nennt Entwicklung "bedrohlich"
BKA-Präsident Münch bezeichnet die Entwicklung insgesamt als "bedrohlich". Das Allzeithoch der Fallzahlen zeige die Zuspitzung politischer und gesellschaftlicher Spannungen aufgrund sich überlagernder Krisen und Konflikte. "Wir sehen aktuell, wie schnell Emotionen, Hass und Hetze sowie reale Gewalt auf den Straßen in Deutschland eskalieren können."
Intensiven Kontakt zu Opfern hat der Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG). Auch er zieht regelmäßig Bilanz. Im Jahr 2023 dokumentierte die in elf von 16 Bundesländern aktive Organisation 2589 Taten - eine Zunahme von mehr als 20 Prozent. Dabei habe es sich in 1402 Fällen um Körperverletzungen gehandelt, sagt Judith Porath von der Brandenburger Opferperspektive.
Auch Kinder und Jugendliche Opfer politisch motivierter Delikte
Unter den Betroffenen aller gemeldeten Delikte seien 585 Kinder und Jugendliche gewesen. "Eine sehr ernste Entwicklung, die verdeutlich, wie sich die Bedrohungslage vor allem für vulnerable Gruppen verschärft hat", betont Porath. Die Täter kämen aus allen Altersgruppen und stünden häufig offen zu ihren Taten.
Als Beispiel nennt die Geschäftsführerin der Brandenburger Beratungsstelle den versuchten Mord an einer jungen schwarzen Frau in Hamburg: "Ihr rechtsextremer Nachbar, der seine Tat vorher ankündigte, schoss mit einem Gewehr durch die Wohnungstür auf sie."
Als eine wesentliche Ursache sehe man die weit verbreiteten flüchtlingsfeindlichen Diskurse und rassistische Hetze. Die werde unter anderem von extrem rechten Parteien wie der AfD geschürt, sagt Porath.