Linksextremismus in Deutschland: Wie gefährlich ist er?
2. Juni 2023Gefährliche Körperverletzung und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung – wegen dieser Vorwürfe wurde die Studentin Lina E. am 31. Mai 2023 vom Oberlandesgericht Dresden zu fünf Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt. Drei Mitangeklagte erhielten Strafen von maximal drei Jahren und drei Monaten. Die von dem Quartett überfallenen Opfer waren Rechtsextremisten.
Der Vorsitzende Richter Hans Schlüter-Staats erinnerte in seiner Urteilsbegründung an den Angriff auf einen mutmaßlichen Neonazi, der wegen einer Mütze mit rechtsextremem Logo schwer verprügelt und "für sein Leben gezeichnet" worden sei. Diese Tat zeige, wohin der militante Antifaschismus führe.
Mehr gewaltorientierte Linksextremisten
Dazu passt das, was der Verfassungsschutz 2022 in seinem Bericht über den Linksextremismus in Deutschland geschrieben hat: Das Gefahrenpotenzial bleibe "weiterhin hoch". Die Zahl der gewaltorientierten Linksextremisten sei um rund 700 auf 10.300 gestiegen. "Gewalttaten werden von konspirativ und professionell agierenden Kleingruppen planvoll und gezielt durchgeführt."
Im Fokus der Gewalt stehen laut Verfassungsschutz "vor allem die Polizei und als solche ausgemachte Rechtsextremisten, aber auch weiterhin Wirtschaftsunternehmen, vor allem aus der Immobilienbranche". Zudem versuchten Teile der Szene, Einfluss auf die Klimaproteste zu nehmen.
Weniger linke Straftaten
Rein statistisch betrachtet ist der Linksextremismus jedoch stark rückläufig – zumindest beim Blick auf die registrierten Straftaten. Die im Mai 2023 vom Bundeskriminalamt (BKA) präsentierten Zahlen zur politisch motivierten Kriminalität ergeben insgesamt ein Minus von 31 Prozent.
Allerdings betrifft das überwiegend Propagandadelikte und Sachbeschädigungen. Die Zahl der erfassten Körperverletzungen ist im Jahresvergleich lediglich um knapp neun Prozent von 438 auf 399 gesunken. Das Gegenteil ist beim Rechtsextremismus zu beobachten: ein Anstieg um über 16 Prozent von 869 auf 1013.
Bundeskriminalamt ist alarmiert
BKA-Präsident Holger Münch nimmt diese Entwicklungen sehr ernst: "Sie richten sich gegen unsere freiheitlich demokratische Grundordnung und gefährden unseren gesellschaftlichen Frieden." Damit meint er insbesondere den Rechtsextremismus und die im Internet weit verbreitete Hasskriminalität.
Derweil attestiert der Verfassungsschutz dem gewaltorientierten Linksextremismus ein "hohes Radikalisierungsniveau". Die Gewaltbereitschaft sei bei einigen Szeneangehörigen derart ausgeprägt, "dass sie sich vom Rest des gewaltorientierten Spektrums abgrenzen und in kleinen Gruppen eigene, akribisch geplante und häufig äußerst brutale Taten begehen".
Hotspots: Berlin, Hamburg, Leipzig
Als Schwerpunktregionen werden die Großstädte Berlin, Hamburg und Leipzig bezeichnet. Die vor kurzem zu einer hohen Haftstrafe verurteilte Lina E. stammt aus Leipzig. Deutschlands Innenministerin Nancy Faeser kommentierte den Richterspruch mit den Worten: "Diese Radikalisierungs- und Gewaltspirale darf sich nicht weiter steigern." Offenbar seien die Hemmschwellen gesunken, vermutet die Sozialdemokratin.
Die Urteile gegen Lina E. und ihre Mitangeklagten stießen in der linksextremistischen Szene auf hohe Resonanz, sagte Nancy Faeser. Deshalb würden die Sicherheitsbehörden sie "genau im Blick behalten". Man gehe genauso entschieden gegen den Linksextremismus vor wie gegen Rechtsextremismus oder auch den islamistischen Terrorismus.
Verfassungsschutz: keine Entwarnung
Obwohl linksextremistische Straf- und Gewalttaten zuletzt zurückgegangen sind, sieht der Verfassungsschutz keinen Anlass zur Entwarnung: Nach dem starken Anstieg in den Vorjahren sei das als "Konsolidierung auf hohem Niveau" zu werten. Behördenchef Thomas Haldenwang ordnet den Fall Lina E. in eine langjährige Entwicklung ein: "Wenn sich die Radikalisierungsspirale weiterdreht und die Taten immer brutaler und hemmungsloser werden, dann rückt der Moment näher, in dem man auch von Linksterrorismus sprechen muss", heißt es in einer Erklärung auf der Homepage des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV).
Schon länger auf dem Schirm von Sicherheitsbehörden ist der zunehmende Protest gegen die Klimapolitik. Linksextremisten versuchten ihre Aktionsformen einschließlich der Begehung von Straf- und Gewalttaten als legitimes Mittel im politischen Meinungskampf zu rechtfertigen, heißt es dazu im Bericht des Verfassungsschutzes.
Quo vadis "Letzte Generation"?
Ziviler Ungehorsam werde umgedeutet. Vorsätzlich ausgeübter und mitunter gewaltsamer Widerstand werde in eine Reihe gestellt mit Menschen- und Bürgerrechtsbewegungen, die gewaltlos gegen Unrechtssysteme protestierten. Als diese Analyse erstellt wurde, gab es in Deutschland allerdings noch keine systematischen Straßen-Blockaden der sich selbst "Letzte Generation" nennenden Klimaschutz-Gruppe.
Inzwischen landen deren Mitglieder, die sich mit ihren Händen auf Autobahnen festkleben und damit den Verkehr zum Erliegen bringen, immer häufiger hinter Gittern. Im Mai fanden landesweit Razzien statt wegen des Verdachts der Unterstützung einer kriminellen Vereinigung. Das Vorgehen der Sicherheitsbehörden löste eine hitzige Debatte über die Verhältnismäßigkeit aus.
Keine Gewalt gegen die Polizei
Schon bevor es so weit gekommen war, hatte der Politikwissenschaftler und Extremismus-Forscher Armin Pfahl-Traughber in einem Podcast der "Bundesfachstelle Linke Militanz" die Aktivisten der Letzten Generation gegen den Vorwurf des Linksextremismus in Schutz genommen: "Sie lassen sich von der Polizei festnehmen. Sie wehren sich nicht dagegen. Sie wenden keine Gewalt gegen Polizeibeamte an."
All das seien Unterscheidungsmerkmale gegenüber dem Agieren von Linksextremisten. Legitimieren möchte Pfahl-Traughber die Aktionen aber nicht. Er halte sie wegen des weit verbreiteten Unmuts in der Bevölkerung auch für "strategisch verfehlt". Und er sorgt sich um die weitere Entwicklung: "Wenn es zu großen Frustrationserlebnissen in der Klima-Bewegung kommt, dann könnte sich eine kleine Gruppe immer mehr radikalisieren."