Islamistische Netzwerke: Was ist Muslim Interaktiv?
10. Mai 2024Um die 1000 Menschen sollen es Ende April gewesen sein auf dem Hamburger Steindamm. Die Gruppe "Muslim Interaktiv" hatte zur Demonstration aufgerufen und Hunderte folgten, skandierten Gott ist groß, auf Schildern war zu lesen: "Kalifat ist die Lösung" und "Deutschland = Wertediktatur". Der Aufschrei war groß, Verbotsforderungen wurden laut. Jetzt soll am Wochenende die nächste Demonstration folgen.
Viele wurden vom plötzlichen Aufmarsch überrascht. Sogar Necla Kelek. Die Soziologin ist Vorsitzende des Vereins Säkularer Islam, ebenfalls in Hamburg angesiedelt. Gemeinsam mit weiteren Vereinen organisierte sie eine Gegendemonstration. "Wir waren selber überrascht von der Demonstration von Muslim Interaktiv", sagt sie der DW. "Das ist vor allem eine Organisation, die sich über soziale Medien wie TikTok organisiert. Das macht sie umso gefährlicher. In einer Moschee könnte man zumindest hingehen und sich erkundigen."
Auf dem Radar der Sicherheitsbehörde ist die Gruppe Muslim Interaktiv (MI), sie wird im Verfassungsschutzbericht des Landes erwähnt. Gegründet 2020, rechnet der Bericht die Gruppe zum Umkreis der Organisation Hizb ut-Tahrir (HuT), die 2003 bereits verboten wurde, weil sie Gewaltanwendungen befürwortet und zum Töten von Juden aufgerufen hatte.
Nach dem Verbot gründeten sich laut Verfassungsschutz "informelle HuT-Netzwerke" wie Muslim Interaktiv. Es gibt noch weitere in Deutschland. Der Verfassungsschutz zählt auch "Generation Islam" und "Realität Islam" zu HuT-nahen Ablegern.
"Gesichert extremistisch"
Muslim Interaktiv gilt für den Verfassungsschutz als "gesichert extremistisch". Das liegt unter anderem daran, dass die Gruppe ein weltweites Kalifat fordert und somit die Demokratie und ihre rechtsstaatliche Grundordnung in Deutschland ablehnt. "Das ist ein genuin politisches Programm, das hier ausgerollt wird, und zwar auf Grundlage von Islam und Scharia. Das ist, neutral formuliert, eine revolutionäre politische Bewegung, die eine grundsätzliche Umgestaltung der Herrschaftsverhältnisse, nicht nur im islamischen Raum, sondern der ganzen Welt anstrebt", sagt Andreas Jacobs, Leiter Abteilung Gesellschaftlicher Zusammenhalt bei der Konrad-Adenauer-Stiftung, der DW.
Dabei stünden anders als bei anderen islamistischen Bewegungen wie den Salafisten konkrete Verhaltensregeln weniger Vordergrund. "Es werden weniger Fragen der Lebensweise diskutiert wie: darf ich eine Frau berühren und Ähnliches". Jacobs bezeichnet MI stattdessen als einen "identitären Jugendkult", analog zu rechtsextremen identitären Bewegungen, wie den sogenannten Reichsbürgern.
Inszenierung in den sozialen Medien
Ein Blick in die sozialen Medien untermauert diesen Eindruck: Über 20.000 Follower hat die Gruppe auf TikTok. Die Videos sind professionell gemacht, die prominenten Führungsfiguren inszenieren sich modern und wortgewandt. Es gibt Straßenumfragen, um Nähe zur muslimischen Community zu suggerieren.
Und die Botschaft scheint zu verfangen: In dem Onlinemagazin t-online berichtet ein Lehrer anonym davon, wie die führenden Personen bei Muslim Interaktiv wie Popstars gefeiert werden und seine Schüler schon deshalb zur Demonstration gehen wollen, um ihre "Helden" dort zu treffen.
Häufig knüpft die Gruppe an gesellschaftliche Debatten an: die Verfolgung der Uiguren in China, Koran-Verbrennungen in Schweden, ein mögliches Kopftuchverbot in Deutschland. Und immer präsentiert MI Muslime dabei als diskriminiert und ausgegrenzt - besonders seit dem Terroranschlag der Hamas auf Israel, dem Beginn des Gaza-Krieges und weltweiten Protesten. Die Sprache, die MI und andere Gruppen seither nutzten, sei jetzt sehr viel deutlicher geworden, sagt Navid Wali, pädagogischer Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisation Violence Prevention Network, der DW.
"Muslim Interaktiv nutzt auch bekannte Influencer, die vielleicht bedenkenlos ihre Inhalte teilen, und sagt: seht her, wir Muslime sollten alle jetzt zusammenhalten, um gegen diese Islamfeindlichkeit anzugehen. Das ist der Vorwand, wie man dann versucht, andere zu locken und für sich zu gewinnen", erklärt Wali.
Wali bezeichnet Muslim Interaktiv als "Polit-Sekte". Die Videos von MI sind durchweg auf Deutsch, die Inhalte eher kurze analytische Einheiten. "Muslim Interaktiv richtet sich an Studierende, an Akademiker sogar. Aber der Bewegung geht es auch nicht per se um das Anwerben potenzieller Anhänger, sondern darum, so bekannt wie möglich zu werden. Die Umsetzung der Pläne erfolgt später ohnehin durch einen kleinen Kreis, der eingeweiht ist."
Verbot – ja oder nein?
Strategisch gesehen, sei es gar nicht so klug von Muslim Interaktiv nun erneut auf die Straße zu gehen – und neue Verbotsforderungen zu provozieren, sind sich Jacobs und Wali einig.
"Aber die Gruppe ist juristisch gut aufgestellt. Bei dieser neuerlichen Demonstration, das würde ich prophezeien, wird es keinen Extremismus geben. Der Gruppe geht es jetzt vor allem um Aufmerksamkeit", sagt Wali. Bei der ersten Demonstration Ende April waren noch Pullover zu sehen, auf denen die Umrisse des Staates Israels zu sehen waren mit dem Wort Kalifat darüber. Solche Grenzüberschreitungen wird es am Wochenende eventuell nicht mehr geben.
Das juristisch kalkulierte Vorgehen von Muslim Interaktiv erschwert ein Verbot. Ähnlich wie rechtsextreme, identitäre Bewegungen scheinen sie den Rahmen genau zu kennen, in dem sie sich bewegen dürfen. Eine Kalifats-Forderung, solange sie nur theoretisch geäußert wird, ist in Deutschland nicht verboten.
Navid Wali befürchtet aber ohnehin, dass ein Verbot in genau jenes Opfernarrativ hereinspielt, an das MI so oft anknüpft. "Wir müssten dann wahrscheinlich in unserer Arbeit mit Jugendlichen erklären, dass es nicht darum geht, muslimisches Leben zu verbieten. Es wäre besser, statt eines Verbots, den Jugendlichen Alternativen aufzuzeigen, wie muslimisches Leben in Deutschland noch aussehen kann."
Islamwissenschaftler Jacobs bemängelt vor allem das fehlende Wissen zu Gruppen wie Muslim Interaktiv. "Es gibt bisher relativ wenig systematische Forschung über diese Gruppen: über die Größe, Auswertung der Videoportale, Querverbindungen der Botschaften zu Hizb ut-Tahrir. Das steckt noch in den Kinderschuhen im Vergleich zu anderen islamistischen Gruppierungen."
Ein Verbot hätte da, aus seiner Sicht, auch Vorteile: "Erstmal gäbe es eine wichtige Signalwirkung und Zweitens könnten die Sicherheitsbehörden damit Zeit gewinnen, sich die Strukturen genauer anzuschauen und zu überlegen, wie man dann mit Nachfolgeorganisationen umgeht."
Für das anstehende Wochenende sei erstmal keine weitere Gegendemonstration geplant, sagt Necla Kelek in Hamburg. Die Zivilgesellschaft hätte ein Signal gesetzt, nun sei die Politik an der Reihe zu handeln.