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Deutschland und Corona: Zieht der Bundestag Bilanz?

5. April 2024

Immer mehr Politiker und Gesundheitsexperten fordern, dass Deutschland die Zeit während der Corona-Pandemie kritisch aufarbeiten soll. Möglich wäre, dass der Bundestag eine Enquete-Kommission einsetzt.

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In Aalen in Baden-Württemberg ist eine verlassene beleuchtete Einkaufsstraße unscharf im Hintergrund zu sehen, im Vordergrund liegt eine Corona-Schutzmaske.
Sinnbild der Pandemie: Leere Straßen und die SchutzmaskeBild: Jason Tschepljakow/Ostalb Network/picture alliance

Sie war eine der größten Herausforderungen für die Politik nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht nur in Deutschland: Weltweit hatte die Corona-Pandemie ab Anfang 2020 zur Folge, dass Grundrechte außer Kraft gesetzt und Lockdowns verhängt wurden.

Schulen, Kindergärten und viele Unternehmen mussten vorübergehend schließen. Und nachdem die ersten Impfstoffe bis Mitte des Jahres 2021 in großen Mengen verfügbar waren, entstand ein großer Druck, auch in der Gesellschaft, sich auch tatsächlich impfen zu lassen.

Ist eine Enquete-Kommission der richtige Weg?

Jetzt, mehr als vier Jahre später, ist in Deutschland eine Debatte darüber entstanden, ob und in welcher Form das Land diese intensive Zeit und die politischen Entscheidungen aufarbeiten soll. Von vielen Politikern wird eine so genannte Enquete-Kommission ins Spiel gebracht. Solch ein Gremium, besetzt mit Abgeordneten und Experten wie Wissenschaftlern, könnte vom Bundestag eingesetzt werden. Und am Ende einen Bericht vorlegen.

An einem Freitag im Januar 2021 ist in der Innenstadt von Köln kaum jemand auf der Straße, die Läden haben geschlossen
Lockdown, geschlossene Geschäfte, leere Straßen: Die Innenstadt von Köln Anfang Januar 2021Bild: Rupert Oberhäuser/picture alliance

Dass die Zeit der Pandemie noch lange Folgen haben würde, war schon dem damaligen Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) klar, als er im April 2020 im Bundestag sagte: "Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen."

Tatsächlich gibt es gravierende Auswirkungen bis heute. Noch immer leiden viele Menschen an erdrückenden Long-Covid-Erkrankungen . Viele vor allem kleine Betriebe, Restaurants etwa, haben die Zeit der Schließungen nicht überlebt. Und fast einhellig gestehen damalige und heutige Politiker ein, vor allem mit Kindern und Jugendlichen viel zu streng umgegangen zu sein.

Dahmen: "Wir sind gut da durch gekommen"

Einer dieser Politiker ist Janosch Dahmen, Arzt und Bundestagsabgeordneter der Grünen. Er sagt der DW: "Insgesamt ist Deutschland gemessen an seiner sehr alten Bevölkerung gut durch die Pandemie gekommen. Besonders die sehr konsequenten Maßnahmen während der ersten Welle, als es noch keine Impfung und zu wenig Schutzausrüstung gab, haben sehr viele Menschenleben gerettet."

Dahmen verweist auch darauf, dass zahlreiche Forschungseinrichtungen, auch Gremien wie der deutsche Ethikrat, in vielen Stellungnahmen bereits Bilanz über die Corona-Zeit gezogen hätten. Ein weiteres, vom Bundestag eingesetztes Gremium hält er für wenig sinnvoll: "Eine Enquetekommission oder gar ein Untersuchungsausschuss wäre jetzt das falsche Instrument und würde vor allem für parteipolitische Profilierung missbraucht werden. Das hilft niemanden." Für die Profilierung von Rechtspopulisten etwa, denen jede Maßnahme, die gegen das Virus ergriffen wurde, eine zu viel gewesen sei.

Nach offiziellen Angaben haben sich bislang fast 39 Millionen Bundesbürger mit COVID-19 infiziert. Es gab in Deutschland fast 183.000 Todesfälle im Zusammenhang mit der Pandemie.

Eine zufällige DW-Straßenumfrage

Was denken die Menschen heute über die Corona-Zeit? Eine Straßenumfrage der DW unter zufällig ausgewählten Menschen in der vergangenen Woche in der deutschen Hauptstadt Berlin ging der Frage nach, was lief gut, was war schlecht in der Pandemie?

Herr Weidinger ist ein älterer Mann, er sagt: "Das war eine schwierige Situation, also die einzige wahre Lösung gab es da vermutlich nicht. Irgendwelche Entscheidungen mussten schon getroffen werden. Ich hielt aber diese totale Abkapselung und Verbannung in der Wohnung für zu streng."

Ein Mann lässt sich in einer Bar in Berlin gegen das Corona-Virus impfen.
Geimpft wurde an den ungewöhnlichen Orten, hier in einer Berliner Beach Bar im Januar 2022Bild: Markus Schreiber/AP/picture alliance

Jacquelina erinnert sich vor allem an die Unversöhnlichkeit, mit der sich Impfgegner und Befürworter begegneten: "Gerade die Menschen, die sich nicht haben impfen lassen, dazu gehöre auch ich, mussten in der Gesellschaft viel durchmachen, wurden als Verschwörungstheoretiker dargestellt."

Und dass sich nicht wenige Menschen, auch Politiker, in der Corona-Zeit eine goldene Nase verdienten, etwa bei der hektischen Suche nach vielen Millionen Schutzmasken, erregt Neyran noch heute: "Es wurde so viel gemauschelt und zu viel versteckt. Es haben viele Menschen viel Geld verdient, aber was will man jetzt hinterher damit machen? Also ich denke mal, dabei würde man wieder viel Geld verbrennen. Und wozu?"

Führende Politiker für eine Aufarbeitung

Der heutige Gesundheitsminister, der Sozialdemokrat Karl Lauterbach, will einer Aufarbeitung nicht im Wege stehen. Auch der grüne Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck kann sich dafür erwärmen: "Ich finde es überhaupt nicht ehrenrührig, wenn man sagt, die Corona-Zeit muss noch einmal angeschaut und aufgearbeitet werden", sagte der Grünen-Politiker in Berlin.

Der Ministerpräsident von Sachsen, Michael Kretschmer von der konservativen CDU, erinnert sich vor allem daran, dass zwischenzeitig jede Kritik am strikten Kurs der damaligen Regierung unter Kanzlerin Angela Merkel, ebenfalls CDU, als ungehörig galt: "Ich bin von anderen Parteien so beschimpft worden, als ich während der Corona-Zeit das Gespräch mit kritischen Menschen gesucht habe. Mir war klar, in einer Demokratie kann es nicht nur eine Meinung geben."

Während einer Abitur-Prüfung in Bautzen im April 2021 zeigt ein Luftbild über der Klasse, dass die Schüler weit auseinander sitzen (29.04.2021)
Abiturprüfung in Bautzen (im April 2021): War der Umgang mit Jugendlichen zu streng?Bild: Sebastian Kahnert/dpa-Zentralbild/dpa/picture alliance

Für die Regierungschefin im Bundesland Rheinland-Pfalz, Malu Dreyer von der SPD, haben besonders Junge und Alte zu sehr unter der Pandemie gelitten: "Beim Bestreben Menschenleben zu schützen, haben wir mit dem Wissen von heute vor allem Kindern und Jugendlichen zu viel zugemutet und auch denen, die sich am Lebensende aufgrund von Kontakt-Beschränkungen nicht mehr von ihren Liebsten verabschieden konnten."

Die ärmsten Länder haben den höchsten Preis gezahlt

Wenn Deutschland jetzt seine Pandemie-Geschichte wirklich aufarbeitet, wird es eines der ersten Länder sein, die das tun. Fest steht wohl schon jetzt: Die Verwerfungen durch Corona waren woanders weitaus stärker.

Vor gut zwei Wochen stellte das UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) in Berlin einen Bericht vor, in dem auch die Folgen der Pandemie vor allem für die ärmsten Länder der Welt thematisiert werden. UNDP-Direktor Achim Steiner sagte dazu: "Nach dem COVID-Schock, der Wirtschaften und Gesellschaften aus dem Gleichgewicht geworfen hat, haben wir insgesamt wieder Fortschritte gemacht. Aber über die Hälfte der ärmsten Länder der Welt erholen sich nicht." Diese Staaten, so Steiner seien auf einem Vor-Krisen-Niveau stecken geblieben, teilweise seien sie sogar noch zurückgefallen.