Polen löst Ungarn an der Spitze der Europäischen Union ab
31. Dezember 2024Am 1. Januar 2025 übernimmt Polen turnusgemäß für ein halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft von seinem Vorgänger Ungarn. Damit geht für die Europäische Union ein turbulentes halbes Jahr zu Ende. Denn statt als neutraler Vermittler zu agieren, war der ungarische Premier Viktor Orban auf Konfrontationskurs mit Brüssel gegangen und hatte seine Partner mit einer eigenwilligen "Friedensmission" und nicht abgesprochenen Besuchen in Moskau, Kyjiw und Peking verprellt.
"Polens Ratspräsidentschaft wird ein Kontrapunkt sein zu dem, was in den vergangenen sechs Monaten passiert ist", prognostiziert der Osteuropa-Experte Kai-Olaf Lang von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) im Gespräch mit der DW. Dies gelte vor allem für die Sicherheitspolitik sowie das Verhältnis zur Ukraine und Russland.
"Niemand kann mich austricksen"
Polens Premier Donald Tusk ist ein erfahrener Europapolitiker. Er hatte als EU-Ratspräsident zwischen 2014 und 2019 den Europäischen Rat geleitet und war danach Chef der Europäischen Volkspartei (EVP). "Niemand in der EU kann mich austricksen", hatte er in seiner ersten Regierungserklärung nach seiner Amtsübernahme als polnischer Premier im Dezember 2023 kämpferisch angekündigt. Zuvor hatte er die Parlamentswahl gewonnen und die rechtskonservative Regierung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) nach acht Jahren abgelöst.
Die Ratspräsidentschaft bietet Tusk nun eine gute Gelegenheit, seine Ankündigung in die Tat umzusetzen und zu zeigen, dass Polen nach 20 Jahren der EU-Mitgliedschaft kein Lehrling mehr ist, sondern auch für "alte" Mitgliedsstaaten ein Vorbild sein kann.
"Wir sind glaubwürdig. Europa spricht unsere Sprache", sagte der polnische Europa-Minister Adam Szlapka, als er kürzlich in Warschau die Prioritäten der polnischen EU-Ratspräsidentschaft vorstellte. Sein Land sei zu einem "Experten für die größten Herausforderungen" geworden, vor denen der Westen stehe.
Polen hat in der Sicherheitspolitik starke Argumente
Ständiges Motiv in den Reden von Tusk ist seit Monaten die Forderung, dass die Sicherheitspolitik Polens und anderer Staaten an der Ostflanke der NATO zur Politik der ganzen EU werden sollte. "Wir sollten die Beziehungen zu den USA pflegen, aber Europa muss selbstständig werden, muss auf den eigenen Beinen stehen. Die Epoche der Angst und Unsicherheit gegenüber Russland muss beendet werden", sagte er vor dem Treffen mit den skandinavischen und baltischen Staaten Ende November.
Bei den Verteidigungsausgaben ist Polen Vorreiter. Derzeit gibt es 4,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für die Verteidigung aus. Im Jahr 2025 wird es diese Ausgaben auf 4,7 Prozent steigern - ein starkes Argument, nicht nur gegenüber anderen EU-Staaten, sondern auch in künftigen Gesprächen mit dem künftigen US-Präsidenten Donald Trump, der von den europäischen Partnern mehr Engagement fordert.
Kein Frieden ohne Beteiligung der Ukraine
Tusk ist fest entschlossen, zu verhindern, dass mögliche Friedensverhandlungen zur Beendigung des Kriegs in der Ukraine allein zwischen den USA und Russland geführt werden, über die Köpfe der Ukrainer hinweg. Und er will, dass die EU bei solchen Verhandlungen mit am Tisch sitzt.
"Unsere EU-Ratspräsidentschaft wird unter anderem mitverantwortlich dafür sein, wie die Situation in den Verhandlungen aussieht, die im Winter dieses Jahres beginnen könnten", sagte der polnische Premier Anfang Dezember. "Die Ukraine muss bei allen Gesprächen anwesend sein; jeder Vorschlag muss auch von unseren Freunden in Kyjiw akzeptiert werden", so Tusk nach einem Treffen mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron am 12.12.2024 in Warschau.
Um auf jedes Szenario vorbereitet zu sein, baut Polen entlang der Grenze zu Belarus mit dem "Schutzschild Ost" eine Verteidigungslinie auf, für die es sich europäische Mitfinanzierung wünscht. Warschau beteiligt sich auch an der europäischen Luftverteidigung European Sky Shield Initiative. Tusks Regierung befürwortet Euro-Bonds für Verteidigung, doch die Idee neuer EU-Schulden ist in der Gemeinschaft höchst umstritten. Vor allem Deutschland und die Niederlande sind strikt dagegen.
EU-Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine
Nachdem Brüssel vor einem Jahr grünes Licht für die Aufnahme der Ukraine in die EU gegeben hat, will Polen jetzt mit den Beitrittsverhandlungen beginnen. Als erstes könnte das Kapitel über Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Kampf gegen die Korruption eröffnet werden, meint Europa-Minister Szlapka. Kyjiw drängt auf Gespräche über möglichst viele Bereiche, aber Warschau will nichts überstürzen.
Denn Polen steht bereits seit Wochen wieder mitten im Wahlkampf: Im Mai soll ein neues Staatsoberhaupt gewählt werden. Für das Mitte-Links-Regierungslager um Tusk geht es dabei um Kopf und Kragen. Deshalb wird sich der polnische Premier hüten, europäische Projekte in Angriff zu nehmen, die in Polen unpopulär sind und von der Opposition gegen ihn genutzt werden können.
Innenpolitische Zwänge
Tusks Amtsantritt vor einem Jahr war von massiven Protesten der Landwirte gegen Getreideeinfuhren aus der Ukraine begleitet worden. Es kam zu Grenzblockaden sowohl an der polnisch-ukrainischen als auch an der polnisch-deutschen Grenze. Jetzt hofft die Ukraine auf ein mehrjähriges Handelsabkommen, das die Frage der Einfuhren in die EU lösen sollte.
Doch die Bereitschaft, der Ukraine hier Zugeständnisse zu machen, wird auf der polnischen Seite eher gering sein. Polen ist außerdem ein entschlossener Gegner des Freihandelsabkommens mit Südamerika und wird wahrscheinlich alles tun, damit es nicht in der geplanten Form umgesetzt wird. Warschau hat dabei mächtige Verbündete wie Frankreich.
Auch eine mögliche Änderung der Europäischen Verträge, um die Mehrheitsentscheidungen auszuweiten, ist in Polen umstritten und daher keine Priorität der polnischen Ratspräsidentschaft. Die national-konservative Opposition wertet dieses Vorhaben als eine Auflösung des polnischen Staates. "Nein, wir werden nicht (an der Änderung der Verträge) arbeiten. Ich sehe im Rat kein Interesse dafür", sagte die polnische EU-Botschafterin Agnieszka Bartol der Nachrichtenagentur PAP.
Krisen in Deutschland und Frankreich
Große Skepsis hegt Tusk auch gegen den von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen entwickelten European Green Deal. Er sieht vor, die Netto-Emissionen von Treibhausgasen in der EU bis 2050 auf Null zu reduzieren. "Naive Ambitionen, den ganzen Planeten zu retten", beeinträchtigten immer mehr die europäische Konkurrenzfähigkeit in der Welt, sagte Tusk. "Dekarbonisierung kann nicht durch Deindustrialisierung erreicht werden", legte Szlapka nach und warnte davor, dass die Klimapolitik die Akzeptanz der Menschen verliere.
Polens Ratspräsidentschaft fällt in die Zeit innenpolitischer Krisen in Deutschland und Frankreich. Die Schwäche der beiden EU-Führungsmächte will Tusk zur Aufwertung seines Landes nutzen. "Polen positioniert sich sehr offensiv, aber Koalitionen mit den Balten und Nordeuropäern werden nicht ausreichen", warnt der Osteuropaexperte Lang. Sein Ausblick auf die polnische Ratspräsidentschaft ist daher skeptisch: "Polen wird sich als europafreundliches, gestaltungswilliges Land präsentieren - aber gleichzeitig immer wieder sehen, dass die wirtschaftlichen und politischen Handicaps in Deutschland und Frankreich ein Hemmschuh sind, um Europa voranzubringen."