Nationale Gasreserve? Gibt es nicht!
1. März 2022Der größte Gasspeicher im Westen Europas liegt im Bundesland Niedersachsen in 2000 Metern Tiefe. Er ist so groß wie 910 Fußballfelder und kann den Jahresverbrauch an Erdgas von rund zwei Millionen Einfamilienhäusern fassen. "Groß. Größer. Rehden.", heißt es vollmundig auf der Webseite des Betreiberunternehmens Astora - und: Rehden spiele eine zentrale Rolle für die Versorgungssicherheit Deutschlands und Europas.
Astora ist eine Tochterfirma des russischen Energieriesen Gazprom, der mehr als ein Drittel aller deutschen Gasspeicher in der Hand hat. Sie alle sind aktuell fast leer. Der Füllstand in Rehden liegt bei drei Prozent. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck geht davon aus, dass die Speicher "systematisch entleert" wurden, um die Gaspreise strategisch nach oben zu treiben und Druck zu erzeugen. Gas als politische Waffe.
Nationale Gasreserve soll kommen
Rund 55 Prozent der deutschen Gasimporte kommen aus Russland. Außerdem 50 Prozent der Steinkohle und mehr als 30 Prozent des Erdöls. Während es in Deutschland für Öl eine strategische Reserve gibt, die laut Gesetz für 90 Tage reichen muss, gibt es das für Gas und Kohle nicht. Hier entscheiden nur die Unternehmen selbst über ihre Vorräte.
Ein Fehler, wie man jetzt weiß. Das Bundeswirtschaftsministerium will das so schnell wie möglich ändern. Zunächst beim Gas. Per Gesetz sollen für die Gasspeicher Mindestfüllstände vorgeschrieben werden. 80 Prozent am 1. Oktober eines Jahres, 90 Prozent am 1. Dezember. Am 1. Februar sollen es noch mindestens 40 Prozent sein.
Für eine Gasreserve könnte es zu spät sein
Das Gesetz soll schon im Mai in Kraft treten. "Dies ist nötig, damit das komplette Sommerhalbjahr zur Befüllung der Speicher zur Verfügung steht", heißt es in einer Mitteilung des Wirtschaftsministeriums. Doch was passiert, wenn Moskau befiehlt, die Energielieferungen zu drosseln oder sogar zu stoppen? Spätestens im nächsten Herbst und Winter könnte das zu einem schweren Mangel führen.
An Lösungen werde gearbeitet, heißt es in Regierungskreisen. In Krisenzeiten sei vieles denkbar, was man sonst nicht für möglich gehalten habe. Etwa, am Atomausstieg zu rütteln? Der wurde nach der Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima beschlossen. Ende 2022 sollen die letzten drei noch in Betrieb befindlichen Atomkraftwerke abgeschaltet werden.
"Alle Optionen müssen auf den Tisch"
Auch der Ausstieg aus der Kohlekraft ist beschlossene Sache. Im Koalitionsvertrag der Regierungsparteien SPD, Grüne und FDP heißt es, "idealerweise" bis 2030. Das haben die Grünen hineinschreiben lassen.
Mit Blick auf die deutsche Energieversorgung fordern die Wirtschaftsminister der Bundesländer nach einer Sondersitzung nun aber, längere Laufzeiten sowohl von Kohle- als auch von Atomkraftwerken zu prüfen. "Es müssen alle Optionen auf den Tisch", sagte Nordrhein-Westfalens Wirtschafts- und Energieminister Andreas Pinkwart.
Politische Interessen leben neu auf
Pinkwart ist FDP-Politiker. Den Liberalen war der Atomausstieg schon immer ein Dorn im Auge. Dazu kommen regionale Interessen. In NRW stehen 52 und damit deutschlandweit die meisten Kohlekraftwerke. NRW ist zudem eines von vier Bundesländern mit großen Braunkohle-Revieren. Die Ministerpräsidenten dieser Länder stellen einen beschleunigten Kohleausstieg jetzt in Frage.
"Es gibt keine Denktabus", erwidert der grüne Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck. Seiner Partei bringt die Situation in einen schier unlösbaren Konflikt. Als Minister hat die Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit für ihn oberste Priorität. Auf der anderen Seite ist der Kohleausstieg ein grünes Kernthema und der Ausstieg aus der Atomenergie gehört seit der Parteigründung zur politischen Identität.
Eine Verlängerung der Laufzeiten ist schwierig
Er werde eine Verlängerung der Laufzeiten für die Atomkraft nicht "aus ideologischen Gründen" abwehren, sagt Habeck. Allerdings seien die Vorbereitungen für die Abschaltung der Kernkraftwerke schon so weit fortgeschritten, dass ein Weiterbetrieb aus Sicherheitsgründen nicht möglich sei. Laut den Betreiberfirmen wäre es rein technisch schwierig, auf die Schnelle passende Brennstäbe zu beschaffen. Auch das nötige Fachpersonal drohe auszugehen.
Um diese Probleme zu beseitigen, wären laut NRW-Wirtschaftsminister Pinkwart anderthalb Jahre nötig. Praktisch würde das heißen, dass die Kraftwerke Ende des Jahres abgeschaltet würden, um dann frühestens im Winter 2023/2024 wieder zur Verfügung zu stehen.
Gas aus arabischen Ländern kaufen
Um russische Energielieferungen kurzfristig ersetzen zu können, prüft das Wirtschaftsministerium, mehr Gas aus anderen Ländern zu kaufen. Im Gespräch seien arabische Länder, sagte Minister Habeck nach einer Sitzung der EU-Energieminister in Brüssel. Nach Russland besitzt Katar das zweitgrößte Erdgasvorkommen der Erde. LNG, also Flüssiggas, soll auch aus den USA importiert werden.
Das wird mit Schiffen geliefert. Deutschland will an der Nordseeküste, in Brunsbüttel und Wilhelmshaven, so rasch wie möglich zwei Terminals bauen, die später auch für Wasserstoff genutzt werden könnten: ein bewegliches Terminal, das auf dem Wasser liegt, und ein fest an Land installiertes. Das Problem: Allein die Genehmigungsverfahren dürften zwischen zwei und fünf Jahren liegen.
LNG gilt als "schmutziges" Gas, da es durch umweltschädliches Fracking gewonnen wird. Zudem ist es teurer als normales Erdgas. Doch auf dem Weg zur Klimaneutralität kommt Gas bislang eine entscheidende Rolle als Energieträger des Übergangs zu. Moderne Gaskraftwerke emittieren weniger CO2 als Kohlekraftwerke.
Gespräche in den USA
Wirtschaftsminister Habeck ist jetzt in die USA gereist, aber nicht nur, um über LNG zu sprechen, sondern generell über die Folgen der Sanktionen, über Sicherheitspolitik und Energiesicherheit. Die Grünen sehen in der Krise die Chance, den Ausbau von Ökostrom massiv forcieren zu können.
"Wichtigster Schlüssel für unsere Energie-Souveränität ist die weltweite Transformation hin zu mehr erneuerbaren Energien und mehr Energieeffizienz", hatte Wirtschaftsminister Habeck vor seiner Abreise in die USA gesagt. "Natürlich stellen wir auch im transatlantischen Bündnis die Fragen der Energiesicherheit."
Die Bundesregierung denkt um
Eine Frage, die in der Regierungskoalition bereits beantwortet scheint. Sogar FDP-Parteichef und Bundesfinanzminister Christian Lindner nennt die erneuerbaren Energien inzwischen "Freiheits-Energien" und Bundeskanzler Olaf Scholz findet sie "entscheidend auch für unsere Sicherheit", wie er in seiner Regierungserklärung am Sonntag sagte. "Deshalb gilt: Je schneller wir den Ausbau erneuerbarer Energien vorantreiben, desto besser."
Schon im Juli soll ein Gesetzespaket in Kraft treten, das eine Vollversorgung mit Strom aus erneuerbaren Energien bis 2035 ermöglichen soll. Im Gesetz soll verankert werden, dass der Ausbau im "überragenden öffentlichen Interesse ist und der öffentlichen Sicherheit dient".
Der Ausbau reißt weitere Löcher in die Staatskasse
Dafür müssen die Kapazitäten allerdings enorm ausgebaut werden. Bei der Windenergie soll sich bis 2030 die Leistung auf bis zu 110 Gigawatt verdoppeln. Auf hoher See soll die Windenergie eine Leistung von 30 Gigawatt erreichen. Die Solarenergie soll sich auf 200 Gigawatt mehr als verdreifachen. Um Anwohner, die gegen mehr Windräder sind, zu überzeugen, soll es mehr Möglichkeiten geben, die Kommunen finanziell an Windparks zu beteiligen.
Das alles ist Zukunftsmusik, kostet enorm viel Geld und kann ausbleibende russische Energielieferungen kurzfristig nicht kompensieren. Das kann nur der Zukauf von Gas. Sicher ist, dass die Energiepreise bei knapper werdendem Angebot weiter steigen werden. Um die Bürger zu entlasten, will die Bundesregierung die Umlage streichen, mit der die Stromkunden bislang den Ausbau der erneuerbaren Energien mit finanzierten. Das wird ein weiteres Loch in die ohnehin immer stärker belasteten Staatskassen reißen. 3,7 Cent pro Kilowattstunde ergeben 1,1 Milliarden Euro, die pro Monat fehlen.