EU will die Ukraine an ihr Stromnetz anschließen
28. Februar 2022Plötzlich geht alles sehr schnell in Brüssel. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine macht Entscheidungen in Stunden möglich, für die die EU zuvor Monate gebraucht hätte. "Wir haben keine Zeit für bürokratische Prozeduren im Krieg", bemerkte der außenpolitische Beauftragte der EU, Josep Borrell. Unerwartet schnell beschlossen die Energieministerinnen und -minister der EU bei einer Notfall-Sitzung in Brüssel, die Ukraine zu einem Teil des europäischen Stromverbundes zu machen.
Die Ukraine soll so schnell wie möglich vom gemeinsamen Netz mit Russland und Belarus abgekoppelt werden. Technische Versuche dazu liefen bereits vor dem russischen Angriff. Jetzt soll es einen Not-Anschluss in mehreren Schritten geben. Aus Sicht der für Energie zuständigen EU-Kommissarin, Kadri Simson aus Estland, gibt es in der aktuellen Lage keinen anderen Weg. "Wir haben keine andere Möglichkeit. Das muss jetzt so schnell wie möglich kommen."
EU-Versorgung muss sicher bleiben
Die Vereinigung der europäischen Netzbetreiber und Aufsichtsbehörden in der EU müssen jetzt in wenigen Tagen prüfen, wie das europäische Stromnetz mit angeschlossener Ukraine, die ihren Strom hauptsächlich in vier Kernreaktoren erzeugt, stabil gehalten werden kann. Immerhin geht es um 40 Millionen neue Verbraucherinnen und Verbraucher.
Außerdem muss geprüft werden, ob russische Hacker via Ukraine in die Steuerung von Kraftwerken in der EU eindringen könnten. "Das europäische Stromnetz muss sicher bleiben", verlangte der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck in Brüssel. "Wenn die russische Armee in der Ukraine ein Kraftwerk erobert, dürfen wir keinen Blackout in ganz Europa bekommen. Die Robustheit gegen Cyberattacken oder Blackouts muss gewährleistet sein."
Man müsse die Ukraine jetzt unterstützen, damit die Stromversorgung durch den Krieg nicht komplett zusammenbreche, so Habeck. Derzeit könnte Russland die Stromversorgung in der Ukraine massiv einschränken, denn russische Stellen kontrollieren zum Beispiel Spannung und Frequenz in dem Verbundnetz, das noch aus sowjetischen Zeiten stammt.
Abhängigkeiten bei fossilen Brennstoffen
Klar ist für die EU jetzt auch, dass sie so schnell wie möglich unabhängig von russischen Energielieferungen werden will und muss. Allerdings bezieht die Union im Moment 40 Prozent ihrer Gas-Importe, 25 Prozent ihrer Öl-Importe und 46 Prozent der Steinkohle-Importe aus Russland.
Die Abhängigkeit ist dabei je nach Mitgliedsland sehr unterschiedlich. Finnland zum Beispiel bezieht 94 Prozent seines Erdgases vom Nachbarn Russland. Deutschland, das größte Industrieland in der EU, 50 Prozent. Die Niederlande elf Prozent und Irland überhaupt kein Gas aus Russland. Die Ukraine übrigens kauft auch kein Gas mehr in Russland, obwohl die Hauptpipelines über das Gebiet der Ukraine führen. Nach der Annexion der Krim hat sich die Ukraine auf Gaslieferungen aus der EU gestützt.
Langfristig, bis spätestens 2050, will die EU soweit sein, dass sie überhaupt keine fossilen Brennstoffe mehr verbrennt. Russland als Lieferant wäre dann überflüssig. Auf ihrer Notfall-Sitzung berieten die Energieministerinnen und -minister darüber, wie die Energiewende beschleunigt werden kann.
Der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck gesteht ein, dass man bisher zu gutgläubig war. "Für Deutschland muss man zugeben, dass wir in der Vergangenheit viel zu einseitig auf Energieimporte aus Russland gesetzt haben. Deutschland hat eine höhere Abhängigkeit als andere europäische Länder. Daraus ergibt sich die Verpflichtung, sich schnell davon zu befreien", sagte Habeck in Brüssel. Um russische Gaslieferungen möglichst schnell ersetzen zu können, pocht die Ampelregierung auf europäischer Ebene neuerdings auf Flüssiggas (LNG). Dazu sollen so schnell wie möglich zwei Entladeterminals an der deutschen Küste gebaut werden.
Genug Gas für diesen Winter?
EU-Kommissarin Kadri Simson geht davon aus, dass in der EU auch im Falle eines russischen Gas- und Ölembargos in Europa nicht die Lichter ausgehen oder die Heizungen kalt bleiben. Die Fachleute der Kommission rechnen vor, dass die vorhandenen Gasreserven und Zukäufe von LNG aus den USA, aus Japan und dem Nahen Osten sowie Gas aus Nordafrika ausreichten, um den auslaufenden Winter zu überstehen. "Dank unserer starken und widerstandsfähigen Infrastruktur und erhöhten Energie-Einkäufen sind wir vorbereitet", meint Kadri Simson, die EU-Energiekommissarin.
Die EU habe außerdem ausreichende strategische Ölreserven in einigen Mitgliedsstaaten. Deren Freigabe müsse jetzt mit der Internationalen Energieagentur (IEA) im Ernstfall koordiniert werden. Die Brüsseler Denkfabrik "Bruegel" kommt in einer Analyse zu dem Schluss, dass die EU tatsächlich von heute auf morgen ohne russische Energielieferungen einige Monate durchhalten könnte. Allerdings wären der nächste Winter und die folgenden Jahre ein Problem, weil dann zum Beispiel Gas fehlte, um leere Speicher wieder zu füllen. Außerdem würden die Preise für Gas und Öl weiter explodieren. Für einige Länder wie Bulgarien, die fast zu 100 Prozent von russischen Gas-Importen abhingen, seien Versorgungsengpässe nicht ganz auszuschließen, meinen die Experten der "Bruegel"-Denkfabrik.
Atomkraft als Alternative?
Einige Mitgliedsstaaten, wie Frankreich, setzen auf Atomenergie als stabile Versorgungsgrundlange. Deutschland hat jedoch den Ausstieg beschlossen. Ein Zurück gibt es nicht, bestätigte Wirtschaftsminister Robert Habeck in Brüssel. Eine vorübergehende Verlängerung der Laufzeiten der verbliebenen Atommeiler wurde eilig geprüft. "Die Atomkraftwerke, die wir haben, sind gar nicht mehr in der Genehmigung drin, weiter zu laufen. Das hilft uns nicht weiter. Wir werden andere Maßnahmen, Diversifizierung von Gas und das Hochfahren von erneuerbarer Energie als Strategie verfolgen", so Robert Habeck.
In Ungarn, Tschechien und der Slowakei, die alle von russischem Gas abhängig sind, sollen neue Atomkraftwerke gebaut oder in Betrieb genommen werden. Ungarn und Tschechien setzen dabei auf russische Firmen und Technologie. Die Slowakei hat ihr Kernkraftwerk von einer US-Firma bauen lassen. Die französische Betreiberfirma von Kernkraftwerken hatte vor dem Krieg gegen die Ukraine eine Zusammenarbeit mit der russischen Betreiberfirma "Rosatom" nicht ausgeschlossen. Das dürfte nun auch eine Sackgasse sein.
Für die kurzfristige Versorgungssicherheit nach einem möglichen russischen Liefer-Embargo spielen neue Atomkraftwerke eh kaum eine Rolle, weil ihr Bau viele Jahre, wenn nicht Dekaden dauert.