Montenegro: Ende eines Reformexperiments?
5. Februar 2022Montenegro ist das kleinste Land des Westbalkans - und dennoch eines der unübersichtlichsten der Region. Das zeigt sich derzeit so anschaulich wie selten in den vergangenen Jahren: Im Land des Schwarzen Berges endet - zumindest vorläufig - ein kurzes und turbulentes Reformexperiment, auf dessen Verlauf nahezu alle Nachbarländer mit Argusaugen blicken: Am Freitag (4.02.2022) ist die erst seit 14 Monaten amtierende Expertenregierung unter dem Premier Zdravko Krivokapic durch ein Misstrauensvotum gestürzt worden.
Initiiert wurde die Abstimmung nach einem seit langem schwelenden Machtkampf in der Regierung durch den Vizepremier Dritan Abazovic, der Vorsitzender der kleinen grün-liberalen Koalitionspartei Vereinigte Reformaktion (URA) ist. Nominell geht es dabei um die Auflösung einer Reformblockade und um die Einsetzung eines Minderheitskabinetts. Das soll effizienter arbeiten als die bisherige Regierung und vor allem Fortschritte bei der EU-Integration Montenegros vorantreiben, etwa durch eine Justizreform.
Im Hintergrund stehen jedoch komplizierte politische Machtkämpfe, die in eine lang andauernde Instabilität und einen Reformstop münden könnten. Die Verästelungen dieser Machtkämpfe reichen nahezu in den gesamten Westbalkan. Das wiederum hat hohe europapolitische Bedeutung, denn der Westbalkan ist wirtschaftlich, finanziell und demographiepolitisch eng mit der EU verbunden.
Gegensätzliches Regierungsbündnis
Montenegro wurde nach dem Zerfall Jugoslawiens jahrzehntelang autokratisch regiert - seit 1991 herrschte dort der ehemalige Jungkommunist Milo Djukanovic mit seiner Demokratischen Partei der Sozialisten (DPS). Doch bei der Parlamentswahl im August 2020 funktionierten Manipulationen und Fälschungen erstmals nicht mehr: Die DPS verlor ihre Mehrheit, der Staatspräsident Djukanovic - der noch bis zum Frühjahr 2023 amtiert - musste einem Machtwechsel zähneknirschend zustimmen.
An die Macht kam ein äußerst gegensätzliches Bündnis dreier Parteienallianzen, deren Spektrum von rechtkonservativen Nationalisten bis hin zu proeuropäischen Öko-Liberalen reicht. Einziges gemeinsames Ziel: Djukanovic und die DPS von den Schaltstellen des Staates zu vertreiben. Nach schwierigen Koalitionsverhandlungen trat im Dezember 2020 eine Expertenregierung ihr Amt an, die von dem Maschinenbauingenieur Zdravko Krivokapic geführt wurde, der sich bei Anti-Djukanovic-Protesten einen Namen gemacht hatte, aber politisch unerfahren war.
Keine strukturellen Reformen
Erklärtes Ziel der Expertenregierung war eine grundlegende demokratische und rechtsstaatliche Umgestaltung Montenegros. Die hat das Land bitter nötig: Drei Jahrzehnte lang waren Korruption und Machtmissbrauch an der Tagesordnung, eine unabhängige Justiz und unabhängige staatliche Institutionen existierten nicht. Daran änderte auch nichts, dass Montenegro bereits seit 2012 Beitrittsverhandlungen mit der EU führt.
Als die Expertenregierung unter dem Premier Krivokapic im Dezember 2020 ihr Amt antrat, gingen viele Beobachter von einem schwierigen Reformprozess aus. Das bewahrheitete sich: Zwar griff die Regierung beim Kampf gegen die Organisierte Kriminalität durch, besonders gegen den Drogenhandel. Gegen eine Reihe ehemaliger hochrangiger Funktionäre und Politiker wird wegen Korruption und Amtsmissbrauchs ermittelt. Doch einschneidende strukturelle Reformen, etwa in der Justiz oder beim Kampf gegen die Korruption, blieben aus.
"Ozean der Differenzen"
"Es wird sehr lange dauern, bis wir die Tradition, die Staatsmacht für Parteiinteressen zu missbrauchen und Montenegro als Land einer Partei zu managen, durchbrechen können", sagt Zeljko Ivanovic, Publizist und Direktor von Vijesti, der größten Tageszeitung des Landes, der DW. "Es ist angesichts der schwierigen Umstände in Montenegro schon ein großes Ergebnis, dass diese Expertenregierung überhaupt 14 Monate im Amt überlebt hat."
Die Politologin Daliborka Uljarevic vom Zentrum für Bürgerbildung (CGO) in Podgorica spricht gegenüber der DW von einem "Ozean der Differenzen" in der Koalition und der Regierung, der sich bald nach dem Machtwechsel 2020 aufgetan habe. "In der Folge gab es bisher eher nominelle statt qualitative Veränderungen. Die Gesellschaft befindet sich in einem Zustand der Polarisierung und ist unzufrieden mit der Richtung, in die sich das Land bewegt."
Keine Abkehr von der Westorientierung
Größter Streitpunkt in der Koalition und der Regierung ist die außen- und identitätspolitische Orientierung Montenegros. Nur etwa 45 Prozent der Menschen im Land bezeichnen sich als Montenegriner, immerhin 29 Prozent als Serben, hinzu kommen unter anderem Bosniaken, Albaner, Roma und Kroaten. Die 2006 ausgerufene Unabhängigkeit vom Staatsverband mit Serbien stellen zwar nur noch wenige in Frage. Doch einige politische Parteien, vor allem diejenigen aus dem rechtskonservativ-nationalistischen Bündnis Demokratische Front (DF), plädieren für eine enge Anbindung an Serbien und Russland.
Der Premier Krivokapic, der der Serbisch-Orthodoxen Kirche (SPC) nahe steht, hat diesen Bestrebungen widerstanden. Er hielt Distanz zum serbischen Präsidenten Aleksandar Vucic, der Montenegro in einen großserbischen Herrschaftsbereich einbinden möchte. Krivokapic stellte auch Montenegros NATO-Mitgliedschaft, die EU-Integration und die Anerkennung Kosovos nicht in Frage und entließ 2021 sogar den Justizminister Vladimir Leposavic, der den Völkermord von Srebrenica relativiert hatte. All das veranlasste die DF bereits im Sommer 2021, der Regierung ihre Unterstützung zu entziehen. Das war einer Auslöser der gegenwärtigen Reformblockade.
Montenegro als Teil der "Serbischen Welt"
Doch Krivokapic agiert seinerseits häufig als verlängerter Arm der Serbisch-Orthodoxen Kirche. Zeljko Ivanovic sagt der DW, im Land sei eine "spürbare Klerikalisierung" im Gange. Die SPC verfügt in Montenegro über großen Einfluss und ein riesiges Vermögen. Ihre Positionen sind zwar nicht deckungsgleich mit den politischen Interessen des serbischen Staates in Montenegro. Dennoch sieht sie Montenegro als Teil der "Serbischen Welt", also des serbischen Identitäts- und Kulturraumes. Fest stehe, so Ivanovic, dass die SPC ihr 2020 gegebenes Versprechen gebrochen habe, sich politisch nicht einzumischen.
Angesichts der Reformblockade und der ideologischen Turbulenzen schlug der Vizepremier Abazovic schon vor Wochen die Bildung eines Kabinetts vor, das sich auf eine stabile Parlamentsminderheit stützt und von Teilen der Opposition geduldet wird. Der Vorschlag mündete in einen erbitterten Machtkampf mit dem Premier Krivokapic. Er bescherte Abazovic auch den Vorwurf, ein "Verräter" zu sein und Djukanovics DPS durch die Hintertür wieder an die Macht bringen zu wollen.
Wie es nun weitergeht, ist unklar. Voraussichtlich wird eine technische Regierung ins Amt kommen und bis zu einer Wahl im Herbst 2022 oder im Frühjahr 2023 amtieren. Dass eine solche Regierung einschneidende Reformen durchführt, gilt als wenig wahrscheinlich. Der Reformprozess werde dennoch nicht völlig enden, prognostiziert Daliborka Uljarevic. Und sie weist auf einen hoffnungsvollen Umstand hin: "Unsere Bürger sind zu einem großen Teil viel fortschrittlicher als die meisten Politiker, die sie repräsentieren."