Eine neue Ära für Montenegro
4. Dezember 2020Am heutigen Freitag (4.12.2020) erlebt Montenegro seinen ersten demokratischen Regierungswechsel. Das Parlament in der Hauptstadt Podgorica hat am späten Nachmittag eine neue Regierung gewählt, der die Demokratische Partei der Sozialisten (DPS) von Präsident Milo Djukanović nicht angehört. Djukanović und die DPS dominierten Montenegro seit dem Ende der Herrschaft der Kommunisten und dem Zerfall Jugoslawiens 1991.
Bei den Parlamentswahlen am 30. August hatte die Opposition eine knappe Mehrheit von einem Sitz gewonnen - die erste Niederlage in der politischen Karriere Djukanovićs, der das 620.000-Einwohner-Land 2006 per Referendum aus dem gemeinsamen Staat "Serbien und Montenegro" herausgeführt hatte. Unter seiner Führung nahm Montenegro 2012 zudem Verhandlungen über einen EU-Beitritt auf und wurde 2017 in die NATO aufgenommen.
Besiegt wurde Djukanović von einem bunten Oppositionsbündnis. Es reicht von der pro-serbischen Demokratischen Front (DF) bis zur sozial-liberal-grünen Vereinten Reform- und Aktionspartei (URA). Die Niederlage beeinflussten auch zahlreiche Skandale. Immer wieder wurden dem Präsidenten und seiner Partei Verbindungen zur Organisierten Kriminalität vorgeworfen. Hinzu kommen verbreitete Korruption und grassierende Armut.
Die entscheidende Rolle aber dürfte die serbisch-orthodoxe Kirche (SPC) gespielt haben, der die Mehrheit der Bevölkerung Montenegros angehört; zudem gibt es auch eine weit kleinere montenegrinisch-orthodoxe Kirche (CPC). Sie wird von den Kirchen anderer orthodoxer Länder nicht anerkannt.
Konflikt mit der Kirche
In Konflikt mit der serbisch-orthodoxen Kirche war Djukanović aufgrund des "Gesetzes zur Religionsfreiheit" geraten, das Teile der Immobilien der SPC dem montenegrinischen Staat unterstellt. Die Kirche sieht das als Raub und mobilisierte ihre Gläubigen zuerst zu Massenprotesten - und dann dazu, gegen Djukanović zu stimmen. Der beschuldigte seinerseits das Nachbarland Serbien und dessen Präsidenten Aleksandar Vučić der Einmischung in inner-montenegrinische Angelegenheiten.
"Die Proteste der serbisch-orthodoxen Kirche haben die DPS einen Teil ihrer Wählerschaft gekostet und damit einen wichtigen Beitrag zur Niederlage Djukanovićs geleistet", sagt Vladan Žugić, der seit mehr als 20 Jahren die montenegrinische Politik für die unabhängige, einflussreiche Tageszeitung "Vijesti" analysiert.
Gefahr für die Unabhängigkeit?
Präsident Djukanović selbst hat bisher keine Anstalten gemacht, den Machtwechsel zu behindern - aber seine Anhänger behaupten, die Unabhängigkeit Montenegros sei nun gefährdet. Zudem liefe das Land Gefahr, in klerikalen Nationalismus abzurutschen. Und die neue Regierung wolle die Montenegriner "serbisieren". Als Argumente führen sie an, dass sich einige der neuen Minister als Serben sehen und Mitglieder der SPC sind.
"Djukanović und die DPS geben sich bisher als konstruktive Opposition, die am Nationalismus scheitert, ähnlich wie in Polen oder Ungarn", sagt Politanalyst Žugić. "Sie beschuldigen Serbien, dessen Präsidenten und die serbisch-orthodoxe Kirche, für ihre Wahlniederlage verantwortlich zu sein. Aber das ist alles andere als ein vollständiges Bild, denn die Korruptionsvorwürfe gegen die DPS fehlen genauso wie das Thema Organisierte Kriminalität."
Experiment Experten-Regierung
Montenegros neue Regierung besteht aus Experten. Geleitet wird sie von Premierminister Zdravko Krivokapić, einem parteilosen Universitätsprofessor, der im Wahlkampf das rechts-konservative Bündnis "Für die Zukunft Montenegros" angeführt hatte. URA-Chef Dritan Abazović ist der einzige professionelle Politiker unter den Ministern, alle anderen 12 Ressorts wurden an Fachleute vergeben, die die neuen Regierungsparteien vorgeschlagen hatten.
"Diese Leute sind sauber und ihre Regierung wird sich bemühen, hoch professionell zu arbeiten", sagte Boris Marić der DW. Er war in Montenegro Minister, ist heute politischer Analyst und Leiter der Nichtregierungsorganisation "Zentrum für bürgerliche Freiheiten".
Kampf um jedes Gesetz
Nach seiner Nominierung war Krivokapić von führenden Politikern der Demokratische Front heftig angegriffen worden, die sich nicht an der neuen Regierung beteiligen wollten. Letztendlich gaben sie jedoch nach um zu verhindern, dass die DPS an der Macht bleibt.
"Die neue Regierung wird um jedes Gesetz kämpfen müssen, bevor es im Parlament verabschiedet wird. Ich erwarte jedoch nicht, dass die Abgeordneten der Regierungsparteien ihre Regierung stürzen werden. Wahrscheinlicher ist, dass sie früher oder später Kabinettsumbildungen fordern", meint Boris Marić.
Was wird mit Djukanović?
Milo Djukanovićs Amtszeit als Präsident Montenegros endet 2023. Das Land steht also vor einer Kohabitation. Aber einige Führer der neuen Regierungsparteien fordern bereits die Verhaftung des Staatsoberhaupts. Sie meinen, Djukanović habe während seiner 30-jährigen Herrschaft den Staat benutzt, um enormen Wohlstand anzuhäufen. Der Präsident bestreitet das.
"Ich gehe davon aus, dass es zu Korruptionsklagen gegen Mitglieder der Djukanović-Partei kommen wird. Wenn das zu Urteilen führt, hat die Demokratische Partei der Sozialisten ein großes Problem", prognostiziert Marić.
Gegen Korruption und Corona
Premier Krivokapić hat angekündigt, dass seine Regierung Korruption und organisiertes Verbrechen konsequent bekämpfen wird. Zudem sollen die Verwaltung reformiert, die Herkunft des Eigentums von Politikern und Staatsangestellten untersucht und politisch belastete Beamte entlassen werden. Analyst Žugić ist sicher: "Der entschlossene Kampf gegen die Korruption ist der Schlüssel, um Montenegros Weg in die EU fortzusetzen."
Ex-Minister Boris Marić fügt hinzu, dass die neue Regierung noch vor ganz anderen großen Herausforderungen stehe, etwa dem Kampf gegen Corona. Er ist überzeugt, dass Montenegro nun eine echte Chance habe, ernsthafte Reformen durchzuführen und die staatlichen Institutionen nachhaltig zu stärken.
Montenegro bleibt bei pro-westlichem Kurs
Eine Chance biete die neue Regierung auch der serbisch-orthodoxen Kirche: "Die SPC wird sicherlich Einfluss auf die Änderung des Gesetzes zur Religionsfreiheit nehmen. Danach wäre es aber sehr gut, wenn sie sich wieder aus dem politischen Leben zurückzöge", meint Marić.
Eine Änderung der montenegrinischen Außenpolitik halten beide Analysten für ausgeschlossen. Die Führer der Parteien, die die neue Regierung bilden, haben öffentlich versprochen, dass das Land auf pro-westlichem Kurs bleibt. "Die künftige Regierung wird alle Reformen durchführen, die notwendig sind, damit Montenegro so bald wie möglich der EU beitreten kann", betont Vladan Žugić.