Michel Houellebecq: Ein Provokateur ist 60
26. Februar 20181956 oder 1958? Die Quellen sind nicht eindeutig, wenn es um Michel Houellebecqs Geburtstag geht. Es könnte sein, dass seine Mutter ihn zwei Jahre älter gemacht hat, um ihn eher einschulen lassen zu können, erwähnte Frankreichs bekanntester Schriftsteller einmal. Verbindlich aufgeklärt hat er die Verwirrung nie. Wie so vieles in seinem Leben wurde sie Teil seines ironischen Spiels.
Meister der Selbstinszenierung
Selbstinszenierung, darin ist Michel Houellebecq seit Jahrzehnten groß, und sie gelingt ihm durch Provokation. Etwas von sich zu erkennen zu geben und es bei nächster Gelegenheit zu widerrufen, das habe er perfektioniert, sagt Julia Encke, Literaturchefin der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Im Dezember erschien ihr Band "Wer ist Michel Houellebecq?", in dem sie sich dem Autor aus der Distanz nähert. Sie hat ihr Porträt in verschiedene Kapitel gegliedert, die Rollen oder Eigenschaften des Autors beleuchten.
Gleich das erste trägt den Titel "Was wir nicht wissen". Die Geschichte um das Geburtsjahr gehört dazu, auch der Name, und vor allem das desaströse Verhältnis zur Mutter, einer Ärztin auf der Insel La Réunion. Dort wurde Houellebecq als Michel Thomas geboren, mit dem Namen seines Vaters, einem Bergführer. Michels Großeltern mütterlicherseits holten das Kind nach Algerien, bis das Land 1962 unabhängig wurde und die Mutter des Vaters ihn in Frankreich aufnahm. Henriette Houellebecq, wie sie mit Mädchennamen hieß, wurde zum wichtigsten Menschen in seiner Kindheit. 1978 nahm er ihren weiblich klingenden Nachnamen an.
Skandalautor, Provokateur, Visionär
Houellebecq ist Agrar-Ingenieur und Informatiker, 1980 erhielt er sein Diplom. Danach arbeitete er drei Jahre lang im Landwirtschaftsministerium, Erfahrungen, die er später in seinem Debütroman "Ausweitung der Kampfzone" (1994, deutsch 1999) verarbeitete. Von seiner literarischen Berufung war er schon sehr früh überzeugt. Vor diesem Buch, für das Houellebecq den "Grand prix national des lettres" sowie den "Prix Flore" für den besten Erstlingsroman erhielt, hatte er schon Gedichtbände, Essays und Rezensionen publiziert.
"Der Romantiker", "Der Gewinner", "Der Visionär", "Der Provokateur" - Julia Enckes Kapitelüberschriften werfen ein Licht auf die scheinbar unvereinbaren Rollen und Positionen, die Houellebecq im Laufe seiner Karriere einnahm. Spätestens seit seinem Roman "Elementarteilchen" (1998, deutsch 1999, verfilmt 2006), in dem er rüde mit den Achtundsechzigern und ihrer liberalen Gesellschaft abrechnete, haftete ihm das Etikett des Skandalautors an. Das Image eines Schreckgespensts wurde auch maßgeblich von einer Reportage der amerikanischen Journalistin Emily Eakin geprägt, die den Schriftsteller im Sommer 2000 in seinem Haus in Irland besuchte. Sie zeichnete ihn als vom Alkohol umnebelten Mann, der in einem Sessel zusammengerollt ein ganzes Wochenende verdämmerte.
Reaktionär und Islamfeind?
Encke zeigt Houellebecq als Meister der Inszenierung, als Clochard-ähnlichen Antihelden mit Parka und Zigarette im Mund, der - vor allem - provoziert. Mit den vielen expliziten Sexszenen seiner Romane und mit den oft krassen Äußerungen ihrer Protagonisten. Nicht selten heißen diese "Michel", so dass sich das Vexierspiel zwischen Autor und Figur voll entfalten kann. Deren Aussagen über Frauen oder den Islam begleiten die vielen brüskierenden Statements des Autors selbst: Der Islam sei "die bescheuertste Religion von allen", sagte er in einem Interview, das er nach dem Erscheinen von "Plattform" (2001, deutsch 2002) dem französischen Literaturmagazin "Lire" gab - eine seiner viel zitierten Bemerkungen. Eine andere, die Prostitution abzuschaffen heiße, die Ehe unmöglich zu machen, hatte ähnliches Aufreger-Potenzial.
Viele Kritiker sehen Houellebecq deshalb inzwischen als Reaktionär und Islamfeind. Encke dagegen analysiert seine Vermischung von Fiktion und Autorenmeinung als "Taschenspielertrick". "Er nimmt die Literatur als Ungewissheitsmaschine", erklärt sie, "als Technik der Ambivalenz, mit der unsere Werte in Frage gestellt werden sollen und vor allem unsere Ideologien, extrem ernst."
Seine Romane werden verfilmt und fürs Theater dramatisiert
Andere erkennen in Houllebecq einen Visionär mit untrüglichem Gespür für die Erschütterungen und Krankheiten unserer Zeit. Terroranschläge, den Islam, die rechten Nationalisten, diese Themen hat Houellebecq frühzeitig angesprochen. Sein Roman "Unterwerfung"(2015, deutsch 2015), eine politische Fiktion über das Frankreich im Jahr 2022, das von einem islamischen Präsidenten regiert wird, erschien am Tag des Anschlags auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo.
In seiner ironischen Parabel zeichnete er das Bild eines politischen und gesellschaftlichen Zerfalls. Aktuell wird das Buch mit Edgar Selge in der Hauptrolle für das deutsche Fernsehen verfilmt. Für Selge ist der Stoff nicht neu. Er feierte in der Rolle des Literaturwissenschaftlers François, der sich von der Islambrüderschaft an der Pariser Sorbonne-Universität umwerben lässt, mit "Unterwerfung" schon am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg einen Erfolg.
Dokumentarfilm und neuer Roman
Als "Autor der totalen Schlaffheit" hat sich Houellebecq während der Frankfurter Buchmesse 2017 in einem vielbeachteten "Spiegel"-Interview bezeichnet. Die Tatsachen sprechen dagegen. Filmisch macht auch der Schriftsteller selber wieder von sich reden. Am 11. April kommt in Frankreich ein Dokumentarfilm mit Houellebecq und dem US-Sänger Iggy Pop in die Kinos. "Rester vivant: méthode" (2016, vorläufige Übersetzung: "Am Leben bleiben: Methode") handelt von den Qualen eines Künstlers und von psychischem Leiden, Themen, die sich in vielen Werken des Erfolgsautors finden. Houellebecq verkörpert in dem Film den 53-jährigen Bildhauer und Documenta-Künstler Vincent, der an einer mysteriösen Installation mit dem Titel "Das Geheimnis des Lebens" arbeitet.
Hinweise auf einen neuen Roman hat der Schriftsteller auch schon gegeben, einen der mit Gefühlen zu tun haben werde. In einem Interview mit dem französischen Nachrichtensender "France 2" verkündete Houellebecq, dass er mit der Politik aufhören will. Aber mit dem Thema Liebe - oder besser, das Fehlen von Liebe - habe er noch nicht abgeschlossen.