Buchmesse: Frankreich und seine Autoren
11. Oktober 2017Frankreich kommt in diesem Jahr mit einem großen Auftritt zur Frankfurter Buchmesse. Als Ehrengast der Messe ist die große Literaturnation Frankreich mit ein paar hundert neuen Titeln vertreten - so viele Neuübersetzungen ins Deutsche hat ein literarisches Gastland in den vergangenen Jahren schon lange nicht mehr aufzuweisen gehabt. Dazu eröffnete Staatspräsident Emmanuel Macron gemeinsam mit Kanzlerin Angela Merkel die Messe. Der französische Gastland-Pavillon ist 2.500 Quadratmeter groß. Doch was zeichnet die neue französische Literatur aus? Darüber sprach die DW mit der Kritikerin und Frankreich-Expertin Iris Radisch, deren neues Buch "Warum die Franzosen so gute Bücher schreiben" kurz vor Messe-Beginn erschienen ist.
Deutsche Welle: Sie spannen in Ihrem Buch den Bogen von Jean-Paul Sartre zu Michel Houellebecq - was haben die beiden denn miteinander überhaupt zu tun?
Iris Radisch: Ich meine mit den Houellebecq-Jahren den jetzigen Zeitraum - und zwar auch deswegen, weil ganz viele junge Autoren ihn und sein Auftreten als einen Schock empfunden haben, den sie erstmal überwinden mussten. Insofern steht Houellebecq auch in einer gewissen Weise im Zentrum der aktuellen literarischen Entwicklung in Frankreich, ähnlich wie Jean-Paul Sartre, wenn auch auf ganz andere Weise. Sartre hat ja 1944 ganz bewusst nach der intellektuellen Macht gegriffen, er hat dann ja auch auf Jahrzehnte die französische Geistesrepublik beherrscht. Es gibt also eine gewisse Parallele, einfach was die Bedeutung der Figur für die anderen Autoren angeht.
…aber es gibt ja auch große Unterschiede?
Ich beschreibe die Wege der Freiheit Sartres, so hieß ja auch sein Romanzyklus - das ist der Auftakt der französischen Nachkriegsliteratur. Und am Ende steht Houellebecqs Roman "Unterwerfung". Von der Freiheit zur Unterwerfung: Das ist ein Bogen, der sich da spannt. Diese großen Gesellschaftspanoramen von Houellebecq, die ja auch häufig Gesellschaftssatiren sind, haben in meinen Augen durchaus einen universalen und vor allem auch zeitdiagnostischen Anspruch, der - wenn auch ganz anders gelagert als bei Sartre -, aber doch von der Perspektive und von der Stoßrichtung her, eine sehr dominierende Rolle in der französischen Gegenwartsliteratur spielt.
Wie erklären Sie sich das Faszinosum Houellebecq? Liegt es nicht gerade auch darin begründet, dass er einerseits etwas propagiert, andererseits aber immer auch ein ironisches und satirisches Spiel treibt? Lässt sich das Rätsel Houellebecq überhaupt aufklären?
Ganz aufklären lässt sich das nicht, wo die satirische Rollenprosa bei Houellebecq aufhört und wo die Houellebecq-Ideen wirklich anfangen. Das kann ich auch ein bisschen aus den Gesprächen schließen, die ich mit dem Autor geführt habe. Mein Eindruck ist, dass nicht alles nur Satire und Rollenprosa ist, ein großer Teil selbstverständlich. Aber es gibt etwas, das würde ich einen anarchischen, vielleicht auch rechtsanarchischen Kern seines Denkens nennen. Das hängt doch sehr deutlich mit seinem Antimodernismus zusammen, mit seiner Kritik an der Aufklärung, am Rationalismus, am Laizismus, am Universalismus - also an allem, wofür Sartre eigentlich steht. Damit rechnet Houellebecq ab. Da gibt es einen Kern unironischen Houellebecq, der in all seinen Büchern enthalten ist.
Ist das nicht auch eine niederschmetternde Erkenntnis - wenn man das für bare Münze nimmt?
Natürlich ist das niederschmetternd. Aber natürlich hat die französische Literatur immer auch den Gegenpol zum Universalismus und zur Aufklärung gehabt. Ich nenne es die "Nachtseiten der Existenz". Die waren in der französischen Literatur immer vertreten, da ist Houellebecq natürlich nicht der erste. Er ist ja auch ein Leser von Louis-Ferdinand Céline, von Eugène Ionesco. Es gab auch so jemand wie Georges Bataille. Das waren alles Autoren, die ja auch nicht nur auf Seiten der Aufklärung und des geistigen Fortschritts und der Emanzipation standen, sondern die auch das Irrationale, das Anarchische und eben diese Nachtseiten im Blick hatten.
Die französischen Autoren, die die letzten Jahre beherrschen mit ihren Romanen und Erzählungen - gibt es da so etwas wie eine Houellebecq-Schule? Man spricht ja manchmal beispielweise bei Virginie Despentes von einem weiblichen Gegenstück. Gibt es "Schüler" von Houellebecq?
Also in nachahmender Weise so direkt nicht, weil dieser destruktive und ironische Furor so wie bei Houellebecq nicht nochmal auftaucht. Auch bei Despentes ist die Parallele ja auch nur in ihrem unerschrockenen Sozialrealismus zu sehen. Was aber nicht da ist bei ihr, ist die Kritik an der französischen Aufklärung und an den geistigen Werten der Republik.
Es gibt aber trotzdem Autoren, auch wenn sie ganz anders schreiben, die in seinem Bann stehen, die sich aber von ihm absetzen. Ich sehe in Frankreich derzeit wieder sehr stark eine Literatur der Autobiografie, des Bekenntnisses, des Schreibens der eigenen Lebensgeschichte. Das ist eine sehr starke Literatur, z.B. von Emmanuel Carrère, oder von Didier Eribon, von Annie Ernaux. Die versuchen anhand ihrer Lebensgeschichten gesellschaftspolitische Essays zu schreiben, die eben auch diagnostischen Wert haben, der größer ist als nur der autobiografische Teil. Das ist auch eine Gegenreaktion auf den Houellebecq-Schock.
Wie ordnen Sie in diesem Zusammenhang den letzten französischen Nobelpreisträger Patrick Modiano ein?
Modianos erster Roman ist 1967 erschienen, da war er noch ganz jung. Er steht eigentlich noch ganz im Bann der klassischen Moderne. Er ist angezogen von der Stimmung der Okkupation und des Algerienkriegs, die er ja gar nicht selber erlebt hat. Aber diese unheimliche rätselhafte Stimmung, die in Paris geherrscht hat, der schreibt er wunderbar hinterher. Ich sehe ihn nicht als einen Autor der unmittelbaren Gegenwart. Er ist ein Autor, der einem verschwundenen Paris hinterherschreibt.
Im Titel Ihres Buches wird ja die Frage formuliert, warum die Franzosen so gute Bücher schreiben. Sie geben dort ja eine Vielzahl an Antworten. Trotzdem die Frage: Gibt es ein paar wenige, triftige Gründe?
Es ist wirklich sehr vielfältig. Es hat natürlich eine Menge mit der alten Rolle des öffentlichen Schriftstellers zu tun, die in Frankreich ja eine lange Tradition hat und an die Sartre und die Sartreianer natürlich sofort angeknüpft konnten nach '45. Dass der Schriftsteller soviel mehr wert ist, dass er ein so hohes symbolisches Kapital hat, das in der Öffentlichkeit geschätzt wird. Dass seine Romane und Erzählungen wirklich konkurrierende Erzählungen zur Politik sind - und auch gleichwertig sind! De Gaulle hat ja den legendären Spruch, einen Voltaire verhaftet man nicht, geprägt und Sartre gemeint…
In Frankreich pflegt man also ein anderes Verhältnis zu den Schriftstellern als in Deutschland?
Diese unglaubliche Wertschätzung der Intellektuellen in Frankreich, das hängt natürlich auch mit der Pariser Situation zusammen, mit der Intellektualität auf so einem engen Raum, die sich da reibt… Da spielt der Mythos der "Weltliteraturhauptstadt Paris" eine Rolle. Das hat mit der ganzen Verfasstheit der französischen Gesellschaft zu tun. Es gibt eine andere Tradition des Gesellschaftsromans als es sie in Deutschland gibt. Die Literatur war immer großbürgerlicher, urbaner, intellektueller, vor allem im Vergleich zur deutschen Nachkriegsliteratur. Es gibt weitere Gründe: Es hat auch mit dem experimentellen Liebesleben der Franzosen zu tun, mit der Libertinage, die auch immer in Opposition zum katholischen Lebensmodell stand.
Das Gespräch führte Jochen Kürten.
Iris Radisch: Warum die Franzosen so gute Bücher schreiben - von Sartre bis Houellebecq; 240 Seiten, Rowohlt Verlag, ISBN 978-3-498-05814-2.