Der Berliner Prozess für den Westbalkan ist ohne Zweifel eine der großen deutschen außenpolitischen Initiativen, die eng mit dem Namen und persönlichen Engagement Angela Merkels verbunden sind. Sieben Jahre nach seinem Start und zum Ende der Ära Merkel ist der Gipfel nun an seinen Ursprungsort zurückgekehrt: Doch die pragmatische Nüchternheit des Prozesses, für die auch Angela Merkel steht, ist einer Ernüchterung gewichen, die längst in den Westbalkan-Ländern dominiert, wenn es um die Erwartungen an die EU geht. Die Erweiterungsprozesse stocken seit Jahren, einerseits weil es immer wieder Vetos und Blockaden in Brüssel gibt, andererseits, weil die Westbalkan-Länder selbst keine substantiellen Fortschritte machen.
Die starke Zugkraft, mit der Deutschland und die Kanzlerin persönlich in den vergangenen Jahren immer wieder innerhalb der EU für die sechs Balkanländer und bei den Westbalkanländern für die EU-Perspektive geworben hat, droht mit dem Ende der Ära Merkel endgültig zu erschlaffen. Dabei wäre es nicht nur wünschenswert, sondern auch im Interesse Deutschlands und der EU, wenn sich Deutschland weiterhin nicht nur als ehrlicher Makler, sondern mit seiner ganzen außenpolitischen Kraft als Zugpferd für die regionale Kooperation und für die EU-Perspektive der Westbalkan-Länder einsetzen würde.
Keine echte Beitrittsperspektive?
Die Bilanz des Berliner Prozesses ist mager, wenn man nach sieben Jahren große Durchbrüche im regionalen Miteinander der Westbalkanstaaten erwartet: Es gibt kaum Fortschritte in der Aussöhnung und in der gegenseitigen politischen Anerkennung. Und doch gibt es viele sehr konkrete Erfolge in zentralen Fragen, die den Menschen in den Ländern direkt zugutekommen und den Weg für eine Normalisierung innerhalb der Region ebnen: das gemeinsame Jugendwerk Ryco, die Aufhebung der Roaming-Gebühren zum 1. Juli und die Vorbereitungen zum Aufbau eines Gemeinsamen Regionalen Marktes. Dieses Projekt soll bis 2024 auch auf dem Westlichen Balkan die vier Grundfreiheiten ermöglichen, auf denen auch die EU aufgebaut ist: den freien Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital.
Eine Perspektive, die vielleicht zukunftstauglicher und realistischer ist als die EU-Integration der Region. In den Westbalkanstaaten jedenfalls glauben viele Menschen nicht mehr daran, dass die EU sie wirklich will. Denn auch dort, wo die Staaten ihre Hausaufgaben erfüllen, verweigert die EU ihnen das Zugesagte: Der Beitrittsprozess Serbiens und Montenegros stagniert seit Jahren, Nordmazedonien und Albanien dürfen bislang keine Beitrittsgespräche beginnen, Kosovo wird als einzigem Land immer wieder die Visaliberalisierung verwehrt. Und Bosnien-Herzegowina ist neben Kosovo am weitesten weg von jeder konkreten Beitrittsperspektive.
Die EU verspielt gerade ihre Rolle als Orientierungspunkt und Perspektive für die Region. Das Versprechen von Thessaloniki ist verblasst. Zuletzt haben sich die Länder bei der Impfversorgung allein gelassen gefühlt. Andere Player stehen vor der Tür: die Türkei, Russland, China und auch die USA.
Kleine Schritte statt großer Durchbrüche
Solange sich die EU durch die Blockaden einzelner Länder bei der Erweiterung Richtung Westbalkan selbst im Wege steht, sind Initiativen wie der Berliner Prozess wichtiger denn je: Denn sie setzen dem Unvermögen, große politische Durchbrüche auf EU-Ebene zu erzeugen, eine Politik der kleinen Schritte entgegen. Kleine Schritte auf dem richtigen Weg der engeren regionalen Zusammenarbeit, die mit langem Atem Erleichterungen im Leben der Menschen schaffen und Normalität friedlicher Nachbarschaft erzeugt, wo bisher nationalistische Abgrenzung dominiert.
Während der Glanz der EU auf dem Westbalkan immer schwächer wird, kann das Engagement einzelner EU-Staaten und Institutionen, die im Berliner Prozess verbunden sind, von wegweisender Ausstrahlung sein. Alle Parteien, die bei der Bundestagswahl Kandidaten für die Nachfolge Merkels ins Rennen schicken, unterstützen offiziell den Integrationsprozess der Westbalkanstaaten in die EU. Doch es braucht mehr, um die Ernüchterung in der Region zu überwinden: Angela Merkel hat hier mit nüchternem Pragmatismus ein Format auf den Weg gebracht, das unter einer neuen Regierung Fortführung, Erneuerung und Stärkung braucht und verdient.