1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikEuropa

Mein Europa: "Das Böse ist nicht allmächtig!"

Fatlum Kryezi
1. August 2023

Im Jahr 2015 wurde der 2. August vom EU-Parlament zum Europäischen Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma erklärt. Der Soziologe und Journalist Fatlum Kryezi, selbst Rom, über die Bedeutung des Gedenktags heute.

https://p.dw.com/p/4UeRF
Sinti und Roma Denkmal Deutschland Berlin
Berlin: Mahnmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und RomaBild: imago/R. Zöllner

In der Nacht vom 2. zum 3. August 1944 ermordeten die Nationalsozialisten in den Gaskammern des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau die letzten 4300 unschuldigen Sinti und Roma - Frauen, Männer, Kinder - aus dem berüchtigten sogenannten "Zigeunerlager".

Vor acht Jahren erklärte das Europäische Parlament (EP) den 2. August zum Europäischen Holocaust-Gedenktag der Sinti und Roma. Gleichzeitig verurteilte das EP "bedingungslos und unmissverständlich jede Form von Rassismus und Diskriminierung" gegenüber der Minderheit. Alle EU-Mitgliedsstaaten wurden aufgerufen, alljährlich am 2. August an den Porajmos, den NS-Völkermord an den Sinti und Roma, zu erinnern.

Das Gedenken an die Opfer des Genozids ist zu einem festen Bestandteil unserer Identität und zum untrennbaren Teil der unglücklichen und schmerzlichen Geschichte unserer Gemeinschaft geworden. Der Porajmos wird dabei nicht nur als eine Tragödie für Sinti und Roma wahrgenommen, die diesem unmenschlichen Verbrechen ausgesetzt waren, sondern als eine einzigartige Form der Barbarei und Unmenschlichkeit.

Europäischer Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma
Blick auf die Ruinen der Baracken des sogenannten "Zigeunerlagers" in der Gedenkstätte Auschwitz-BirkenauBild: Andrea Grunau/DW

In der Ära der Nationalsozialisten wurde das "Ethische" durch das "Technische" ersetzt. Diese instrumentelle Vernunft trennte den Menschen vollkommen von seinen Emotionen, Leidenschaften und moralischen Prinzipien. Der moderne Mensch der NS-Zeit wurde seiner Essenz beraubt. Im Zentrum seiner Interessen stand die Steigerung seiner "technischen" Leistungsfähigkeit und Wirksamkeit, "unbefleckt" durch irgendwelche moralische Verantwortung. Der Holocaust kam nicht wegen der sadistischen Menschen zustande, sondern vielmehr wegen der Gleichgültigkeit und der totalen Entfernung der Menschen in dieser Epoche von jeglicher moralischer Verpflichtung. Eine Entmenschlichung des bürokratischen Apparats ermöglichte die Ermordung solch einer großen Zahl von Menschen innerhalb einer so kurzen Zeit. Dem Holocaust fielen sechs Millionen Juden und 500.000 Sinti und Roma zum Opfer. Die Folgen für die Menschheit und die Zivilisation waren verheerend.

Diskriminierung, Vorurteile und Ungleichheit

Fast acht Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind Roma und Sinti weiterhin Diskriminierung und Vorurteilen in allen Lebensbereichen ausgesetzt - in allen europäischen Ländern, in denen sie verstreut leben. Das Land mit der größten Roma-Bevölkerung in Europa ist Rumänien mit geschätzt etwa zwei Millionen Menschen. In Ungarn, der Slowakei, Deutschland, Spanien, Frankreich und Bulgarien leben jeweils hunderttausende Mitglieder der Minderheit. Insgesamt wird die Zahl der in Europa lebenden Sinti und Roma auf zwölf Millionen Menschen geschätzt - wir sind die größte Minderheit auf unserem Kontinent.

Bedauerlicherweise wird nur an solchen Tagen wie dem 2. August an das Schicksal unserer Gemeinschaft erinnert. Wir genießen nur an solchen Tagen das Interesse der Öffentlichkeit, als Konvention, als Ergebnis einer öffentlichen Vereinbarung. Das heißt nicht, dass Gedenktage falsch sind, aber klar ist doch: Die Bedürfnisse der Minderheit gehen an anderen Tagen des Jahres fast unter - obwohl wir seit sieben Jahrhunderten in Europa leben.

Sinti und Roma gedenken des Völkermords in Auschwitz
2. August 2014: Sinti und Roma aus 25 Staaten gedenken des Völkermords in Auschwitz-BirkenauBild: picture-alliance/dpa

Vor allem in den letzten Jahren, während und nach der Corona-Pandemie, die weltweit zu einem starken Konjunktureinbruch führte, erlebten viele Sinti und Roma verstärkt Ausgrenzung und gerieten wirtschaftlich besonders unter Druck. Viele von uns haben den Eindruck gewonnen, dass die Gemeinschaft der Sinti und Roma die letzte ist, die unterstützt und gehört wird, aber die erste, die immer wieder fotografiert und gefilmt wird, wenn sie Hilfe bekommt.

Dies muss sich ändern. Menschlichkeit kann nicht nur an Gedenktagen oder vor laufender Kamera vorgespielt werden. Zu unserer moralischen Pflicht als menschliche Wesen gehört die Inklusion marginalisierter Sinti und Roma. Letztendlich ergibt sich aus der menschenverachtenden Erfahrung des Holocaust eine besondere Verantwortung gegenüber den Opfern und ihrer Nachkommen. Rassismus, Diskriminierung, Antiziganismus dürfen keinen Platz in Europa haben. In diesem Kontext möchte ich mit einem Zitat des polnisch-britischen Soziologen und Philosophen jüdischer Herkunft Zygmunt Baumann abschließen, das Mut und Hoffnung macht: "Das Böse ist nicht allmächtig. Dem kann man Widerstand leisten."

Fatlum Kryezi (29) ist Soziologe und Journalist. Er stammt aus der Roma-Community in Prizren, Kosovo, und studierte Soziologie und Sozialanthropologie in Prishtina und an der CEU in Budapest.

Mit der Kolumne "Mein Europa" bietet die DW Persönlichkeiten aus dem Kulturleben und der Wissenschaft Mittel- und Südosteuropas Raum, ihre persönliche Sicht auf europäische Themen darzustellen. "Mein Europa" zeigt diverse Perspektiven auf und soll zu einer demokratischen Debattenkultur beitragen. 

Adaption aus dem Albanischen: Ina Verbica