Vive l’Anarchie!
Eigentlich folgten die Straßenschlachten vom Wochenende einem bekannten Muster: Es gibt eine Demonstration, und an den Rändern formieren sich die Schlägertrupps. Nur war das Bild diesmal weit diffuser: Wer waren die politischen Demonstranten und wo verliefen die Grenzen zu den gewalttätigen Randalierern? Die Gilets Jaunes machen es der Polizei schwerer als die gewerkschaftlichen oder parteipolitischen Aufmärsche der Vergangenheit. Die sich nur über die sozialen Netzwerke organisierenden Demonstranten sind völlig undefinierbar. Denn jeder Unzufriedene im Land kann sich eine gelbe Weste anziehen.
Eine neue Qualität von Gewalt
Die Randale in Paris war diesmal gezielter und organisierter als in der Vergangenheit. Wurde früher zuerst demonstriert und dann folgten die Schlägereien quasi als zweiter Akt, ging es diesmal schon morgens mit Randale los. Bis auf die Verbindung von extrem linken und extrem rechten Gruppen ist das Phänomen nicht neu.
Auch in deutschen Städten gab es jahrzehntelang eine gewalttätige Szene, für die der Kampf gegen die Staatsmacht Lebenszweck war. Zuletzt waren Teile davon bei den G20-Demonstrationen im Sommer 2017 in Hamburg zu besichtigen. Am Ende aber trocknete die Szene als Dauerphänomen aus, weil der Nachwuchs wegblieb und weil die Polizei lernte, besser damit umzugehen.
Was Präsident Macron also in erster Linie braucht, ist eine neue Polizeistrategie, die sich an die flexibel auftretenden Schlägertrupps anpasst. Zu Recht verlief die Diskussion über die Verhängung des Ausnahmezustandes ziemlich schnell im Sand. Damit würde man den Randalieren unangemessene politische Bedeutung verleihen. Außerdem bieten die französischen Gesetze bereits jede notwendige Handhabe. Und der Präsident, der noch am Rande des G20-Gipfels Null-Gewalttoleranz ankündigte, hat Recht: Die Mehrheit der Franzosen lebt nicht in Bedingungen, die rechtfertigen Teile der Pariser Innenstadt in Trümmer zu legen.
Was wollen die Demonstranten?
Die Bewegung der Gilets Jaunes zersplittert bereits. Einer ihrer regionalen Vertreter erklärte jetzt, er könne sich als Staatsoberhaupt den im vorigen Frühjahr zurückgetretenen Armeechef vorstellen. Eine Militärdiktatur an Stelle der gewählten Regierung? Direkt neben der Lust an der Anarchie lebt in Frankreich der Hang zum starken Staat.
Zeigt sich also bei einigen Gelbwesten der Zug zum Rechtsradikalen, sind die Blockierer an den Autobahn-Mautstellen eher auf der Linken anzusiedeln. Beide versuchen derzeit, von der Unruhe im Land zu profitieren. Ansonsten aber ist die Mischung von Forderungen - von der Senkung der Mehrwert- und Benzinsteuer bis zur Erhöhung der Sozialleistungen und dem ganz grundsätzlichen Zorn auf die "Reichen" - zumeist unkonkret und unlogisch.
Jetzt hat die Regierung Treffen mit Bürgergruppen angesetzt, um sich deren Forderungen anzuhören. Dabei ist das Zuhören wichtiger als die Erfüllung der teilweise irrealen Wünsche. Der französische Sozialstaat bietet nach wie vor große Versorgungssicherheit, nur fühlen sich viele in ihm nicht mehr aufgehoben. Das Problem liegt mehr in der Wahrnehmung als in der Realität.
Die Kunst des strategischen Rückzugs
Im Sommer hat Emmanuel Macron den Kampf mit der Eisenbahnergewerkschaft mit Härte gewonnen. Jetzt muss der Präsident zeigen, dass er auch klug sein kann und einen Weg finden zwischen notwendigen Reformen, seinen ambitionierten Zielen sowie kluger Einschätzung des Möglichen.
Die Franzosen sind ein schwer zu regierendes Volk, bei dem der revolutionäre Gestus ganz dicht unter der Oberfläche liegt. Sie haben grenzenlose Ansprüche an den Staat, den sie gleichzeitig mit Lust bekämpfen. Der Konsens gehört hier nicht zur politischen Kultur. Der Präsident ist nicht darum zu beneiden, seine Bürger mit den nötigen Reformen versöhnen zu müssen. Eigentlich ist die Aufgabe fast unlösbar. Will er aber überleben, muss er nach starkem Anfang jetzt die Kunst des strategischen Rückzugs lernen, ohne dabei schwach auszusehen. Hoffentlich wächst Macron an seinen Aufgaben.