Wenn "einfache Bürger" mobil machen
Was ist das Besondere an den Protesten in Frankreich?
Tagelange - auch gewaltsame - Proteste oder ausgedehnte Generalstreiks sind in Frankreich keine Seltenheit. Gesellschaftliche oder politische Konflikte werden in Frankreich häufig auf der Straße ausgetragen, öffentlichkeitswirksam, nicht selten kommt es zu Blockaden oder Besetzungen. Anders als der sonst meist von Gewerkschaften oder Oppositionsparteien angeführte Straßenkampf hat sich die aktuelle Protestbewegung, die "Gelben Warnwesten" ("Gilets Jaunes") jedoch eigenständig mobilisiert - vor allem über soziale Netzwerke. Innerhalb weniger Wochen brachte die Bewegung Hunderttausende Franzosen dazu, gegen die Steuererhöhungen auf Benzin und Diesel zu protestieren. Ohne offizielle Ansprechpartner wie Gewerkschaften oder Parteien, die die Proteste organisieren, stellt die Bewegung für die Behörden eine Herausforderung dar, weil sie so unberechenbar ist. Kaum eine Demonstration wurde im Vorfeld angemeldet, für die Sicherheitskräfte ist also schwer einschätzbar, wie viele Demonstranten wo und wann genau auf die Straßen gehen.
Was sind die Gründe für diese neue Art der Mobilisierung?
Dass sich die politischen Parteien anders als sonst eher zurückhalten, liegt nach Ansicht von Eileen Keller vom Deutsch-Französischen-Institut vor allem an den Nachwehen der Wahlen im vergangenen Jahr. Der Sieg von Präsident Emmanuel Macrons "La République en Marche" hat die Parteienlandschaft damals durcheinandergewirbelt. Die etablierten Parteien befänden sich noch in einem Findungsprozess, so Keller gegenüber der DW: "Sie sind noch ein Stück weit mit sich selbst beschäftigt. Teilweise gibt es parteiinterne Konfliktlinien und unterschiedliche Vorstellungen, welchen Kurs man fahren soll." Statt sich mit den Sorgen der Bürger zu beschäftigen und Proteste zu organisieren, scheint sich die Opposition also erst einmal um die eigenen Probleme zu kümmern.
Der Protestforscher Dieter Rucht sieht auch das Thema der Proteste als wichtigen Grund für den Erfolg der "Gelben Warnwesten". "Das ist kein genuines Gewerkschaftsthema und auch kein Thema einer bestimmten Partei. Zu diesem Anlass hat dann eben ein kleiner Funke genügt, weil die Unzufriedenheit weit verbreitet ist."
Wer genau steckt hinter den "Gelben Warnwesten"?
Zu den prominentesten Gesichtern der "Gelben Warnwesten" gehört Jacline Mouraud. In einem Video auf Facebook hatte die 51-Jährige am 18. Oktober von einer "Hetzjagd auf Autofahrer" gesprochen und vor allem die geplante Erhöhung der Ökosteuer auf Diesel und Benzin kritisiert. Unter anderem warf sie Präsident Macron vor, Dieselfahrer als Goldesel zu missbrauchen. Alles nur, um neues Geschirr für den Elysée-Palast zu kaufen oder ein teures Schwimmbad für den Präsidenten zu bauen, so Mouraud, die als Akkordeonspielerin und freischaffende Hypnose-Therapeutin arbeitet. Ihr Video wurde mehr als sechs Millionen Mal angesehen und hunderttausendfach geteilt. Seither steht sie mit an der Spitze der Protestbewegung.
Folgt man den französische Medien, seien die Proteste solche des "kleinen Bürgers", erklärt Keller. Franzosen aus den ländlichen Regionen, die sich abgehängt fühlten. Jene, die geradeso oberhalb des Existenzminimums lebten und damit zu reich seien, um vom Staat besonders unterstützt zu werden, aber zu arm, um das Gefühl zu haben, ein gutes Leben zu führen. Frankreichexpertin Keller glaubt aber, dass die Bewegung diverser ist, das zeigten schon die großen Demonstrationen in der Hauptstadt Paris: "Ich glaube, das ist ein breiter Querschnitt durch die französische Bevölkerung." Umfragen zufolge sehen rund Dreiviertel der Franzosen die Proteste als legitim an.
Haben die Proteste Aussicht auf Erfolg?
Nach den ersten Protesten am Wochenende hatte der französische Premierminister Édouard Philippe in einem Fernsehinterview gesagt, man habe die Nachricht der Demonstranten vernommen, werde aber an den Steuererhöhungen festhalten. Präsident Macron erklärte, es sei für Menschen nie leicht, ihre Gewohnheiten zu ändern. Frankreich werde aber andere Formen der Mobilität entwickeln und die Bevölkerung beim Wechsel auf weniger umweltschädliche Fahrzeuge begleiten. Ein Einlenken scheint also nicht in Sicht - ähnlich wie bei früheren Protesten. "Da war die Reaktion bisher immer so, zu sagen: Wir stehen zu den Entscheidungen, die wir getroffen haben", erklärt Keller. "Also so das Grundsignal: Wir geben nicht nach, wir setzen das um, wofür wir auch gewählt worden sind." Allerdings habe die Regierung unter Macron laut Keller gleichzeitig auch immer wieder kleinere Angebote gemacht, um zu zeigen, dass man zumindest zuhöre. "Aber so eine grundsätzliche Infragestellung, dass das Volk über die Straße den Präsidenten zwingt ein Gesetz zurückzuziehen, dazu wird es mit aller Wahrscheinlichkeit nicht kommen."
Auch in Deutschland sind die Spritpreise derzeit ziemlich hoch - wieso wird hierzulande nicht protestiert?
Das liegt laut Protestforscher Rucht zum einen an den derzeit regierenden Parteien. "In Frankreich ist es so, dass wir eine wirtschaftsliberal ausgerichtete Regierung haben und dass damit wiederum die Sozialthemen in den Vordergrund rücken." Die Themen, die in Deutschland durch die mitregierenden Sozialdemokraten abgedeckt werden, muss die Bevölkerung in Frankreich also selbst anpacken. Und dort wächst die Unzufriedenheit. "Viele denken, es könnte sich für sie verschlechtern. Das ist so eine Art Grundstimmung in Frankreich und die ist dort weitaus stärker ausgebreitet als hier."
In Frankreich herrsche bei Protesten außerdem eine andere Akzentuierung als in Deutschland, glaubt Rucht. Während die Menschen in Deutschland vor allem zu Themen wie Frauenrechten oder Atomkraft auf die Straße gingen, seien es in Frankreich häufiger Themen, die mit der Arbeitswelt zu tun haben.
Hinzu kommt das unterschiedliche politische System. In Frankreich sei das politische System für Impulse von unten wenig durchlässig, führt Protestforscher Rucht aus. Kritik von unten werde nicht so stark nach oben transportiert wie in Deutschland, wo es diverse etablierte Kanäle gebe, über die Interessen artikuliert werden könnten. In Frankreich staue sich hingegen der Unmut in der Bevölkerung häufig so lange auf, bis es zur Explosion kommt - und die findet dann oft auf der Straße statt.