Berlin 24/7 - Berlin ist hip für Künstler
30. Oktober 2016Das ist Berlin! Ich treffe Xiaolu Guo wieder. Sie lebt überall und nirgendwo. Und jetzt im Ostberliner Viertel "Prenzlauer Berg". Als Mutter einer dreijährigen Tochter erfüllt sie alle Voraussetzungen einer "Prenzelschwäbin", jene überfürsorglichen Familienmütter, die Prenzlauer Berg förmlich überschwemmen.
Künstleroase für Xiaolu Guo
Doch der Unterschied könnte nicht größer sein: Xiaolu Guo kommt nicht aus Süddeutschland, sondern aus Südchina, von wo sie über Peking, Paris und London ihren Weg nach Berlin fand. Ihre Leidenschaft ist nicht die Welt der Spielplätze - auch wenn sie ihre Tochter Moon sehr liebt - sondern das unermüdliche Feilen an ihren Büchern und Filmen. Und statt Klatsch und Tratsch brennt sie für den intellektuellen Streit, am besten bei einem Dinner, bei dem sie eine wild zusammengewürfelte Gästeschar in hitzige Diskussionen verwickelt.
Das ist Berlin, sage ich mir nach solchen Abenden und bin froh, dass ich nach meiner tollen Zeit in Washington jetzt hier lebe. Die Stadt kommt mir vor wie eine Wüstenoase, zu der Nomaden aus der ganzen Welt hinströmen. Doch es ist ein neuer Typus von Nomaden. Sie kommen mit Malerstaffeleien, Manuskripten, mit ihren Visionen und Träumen. Diese kreativen Vibes spüre ich auch bei Xiaolu Guo.
Berlin als erste Adresse in Europa
Kennengelernt haben wir uns bei einem dieser spontanen Dinner in New York. An die Gastgeberin können wir uns beide kaum noch erinnern. Schon damals wirkte Xiaolu Guo stark und inspirierend auf mich. Sie erzählte von China, von ihren Büchern und Filmen. Und wie beeindruckt sie von der Arbeit mit dem Regisseur Fatih Akin in Hamburg sei. Wer hätte gedacht, dass sich unsere Wege in Berlin wieder kreuzen.
Berlin sei ein guter Platz für sie, sagt sie bei einem Kaffee und macht dann der Stadt das schönste Kompliment: "Sie bringt Harmonie in mein Leben", und es klingt, als ob bei ihr buddhistische Weisheit mitschwingt. In London wohnt sie nur noch teilweise. Kurz vor dem Brexit kaufte sie für sich, ihre Tochter und ihren australischen Freund ein Apartment in Prenzlauer Berg. Seit dem Brexit seien die Briten in Depression verfallen. Das geistig-intellektuelle Klima in Berlin findet sie anregender. Da fühlt sie sich wohl. Sie meint, dass Berlin dabei sei, Paris und London als erste europäische Adresse abzulösen.
Das sagen mir auch viele Amerikaner. Selbst in New York schauen Künstler und Kreative neugierig und ein bisschen neidisch auf Berlin.
Berlin, Peking und die Freiheit
Ich verstehe warum. Diese Stadt ist international, experimentierfreudig, unfertig. Das zeigt sich selbst in den rauen Baulücken inmitten der Luxusbebauung.
Xiaolu Guo genießt es. Wie anders ihre Zeit in Peking war, davon zeugt ihr Buch "Ich bin China", in dem sie das bedrückende Studentenleben nach dem Massaker am "Platz des Himmlischen Friedens" schildert und dabei eine bewegende Liebesgeschichte zwischen einer Studentin und einem Punk-Musiker erzählt.
Xiaolu Guo hat die Unterdrückung am eigenen Leib erfahren. Ihr Vater, ein berühmter Maler, war 15 Jahre im Arbeitslager. Zieht es sie an die Spree, weil Berlin als Stadt der Freiheit gilt? Das sei ihr zu simpel, sagt Xiaolu, immerhin gebe es auch viel Beschämendes in der Geschichte dieser Stadt.
Nah an Fassbinders "Berlin Alexanderplatz"
Dass sie überall Geschichte atmet, ist aber auch das Faszinierende für Xiaolu Guo. Ihr Blick auf Berlin öffnet auch mir die Augen wieder neu: Dass sie in Prenzlauer Berg wohnt, ist kein Zufall. Sie wollte nah am Alexanderplatz leben. Einer ihrer Lieblingsfilme ist nämlich Rainer-Werner Fassbinders "Berlin Alexanderplatz". "Egal ob der Platz heute touristisch ist oder nicht: Ich fühle die Verbindung zur Geschichte und zu Fassbinder."
Ich bin überwältigt von Xiaolu Guos Leidenschaft für Fassbinder und die Berliner Kulturszene. Doch in mir kommt auch Melancholie hoch, ja, sogar Abschiedsschmerz. Denn Xiaolu Guos Begeisterung bedeutet nicht, dass sie in Berlin jemals heimisch wird. Die Stadt ist nur gerade jetzt der beste Platz für sie, um zu leben und zu arbeiten. Doch sie ist und bleibt eine Nomadin. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis meine Freundin Berlin den Rücken kehrt und weiterzieht.