Berliner Flohmärkte: Eine Reise in die deutsche Geschichte
9. Oktober 2016Flohmärkte in Berlin: Ich finde, das ist wie Eulen nach Athen tragen in einer Stadt, die in ihrer wechselvollen Geschichte ohnehin genug Tand angesammelt hat. Doch die Berliner scheinen nicht genug davon zu kriegen. Mehr als 20 Flohmärkte habe ich bei einer Google-Suche gefunden, darunter auch einen "Nachtflohmarkt" und einen "Ladiesflohmarkt".
Ausgelöst wurde meine Nachforschung durch die Mail eines Freundes: "Wir wollten am Sonntag auf den Riesenflohmarkt am Ostbahnhof gehen. (Ich mag eigentlich keine Flohmärkte)". Genau wie ich, dachte ich - und wir verabredeten uns.
Der Floh und der Markt
Wer die Vorbehalte verstehen will, muss sich nur fragen, wie der Flohmarkt einst zu seinem Namen kam. Im Spätmittelalter nämlich spendeten die Adeligen ihre gebrauchten Kleider für die Armen. Mit dem Kleidungsstück wechselte auch der Floh seinen Wirt. "Ich mag keine gebrauchten Sachen", sagt mein Freund.
Wir treffen uns am Berliner Ostbahnhof. Und tatsächlich nennt sich der Flohmarkt völlig zu Recht "Riesenflohmarkt". Auf 25.000 qm wird hier gehandelt, gefeilscht und gekauft. Wir starten unsere Expedition in der Bahnhofsvorhalle. Hier gibt es geschätzte 50 Stände nur mit Briefmarken, Postkarten, alten Fotos und Münzen. Ich bin erschrocken. Das soll ein Flohmarkt sein? Nur Briefmarken und Münzen, wo bleibt der ganze unnütze Trödel?
Begehrt sind Postkarten aller Art, vor allem, wenn sie alte Stempel tragen. Etwa Dienststempel aus der NS-Zeit oder der DDR. Die persönlichen Nachrichten auf der Rückseite interessierten die Käufer nur selten, erklärt mir ein Händler. Einige Sammler sitzen auf Klappstühlen vor den einzelnen Ständen und gehen akribisch Karte für Karte durch.
Auch Geldscheine haben Konjunktur. Das Bild des Gründers der modernen Türkei, Kemal Atatürk, ziert einen 20 Millionen Lira-Schein. Ein anderer Geldschein belegt, dass man in Simbabwe in der Größenordnung von 50 Trillionen rechnete.
Suche auf dem Flohmarkt nach der eigenen Geschichte
Wir gehen auf den Bahnhofsvorplatz, wo die stahlende Sonne scheint. Ein Mann in unserem Alter hält einen alten Tretroller in der Hand. Sofort sagen alle: "So einen hatte ich auch, nur in Blau". Das Eis ist gebrochen. Wir setzen unseren Rundgang mit viel Enthusiasmus fort.
Erinnerungen kommen hoch. Da gibt es gerahmte Fotos, die Hochzeit, Familienidyll oder die Geschäftseröffnung eines Lebensmittelladens zeigen. Aus vielen Bildern spricht der Stolz auf Erreichtes, auch unter widrigen Lebensumständen. Ich blättere in den Alben und ertappe mich dabei, dass ich nach Fotos suche, die mich an meine eigene Familie erinnern.
Wer hängt sich Honecker über die Couch?
Wir erleben unterwegs aber nicht nur Begegnungen mit unserer eigenen, sehr persönlichen Geschichte, sondern auch mit der Geschichte unseres Landes. Dabei ist Berlin noch einmal ein spezieller Fall. Das, was hier im Laufe der Jahrhunderte auf den Trümmerhaufen der Geschichte gewandert ist, wird nun recycelt. Die Berliner Flohmärkte sozusagen als "wandernde Wiederaufbereitungsanlage" der deutschen Vergangenheit.
Ungezählte Bildbände zeigen die DDR-Funktionäre um Erich Honecker. Uns fallen zwei hochwertig gerahmte Fotos von Honecker und Gorbatschow auf. Wir witzeln darüber, wer so etwas kaufen würde und gehen weiter. Wenig später zieht tatsächlich ein Mann mit dem Honecker in der Hand glücklich von dannen.
Ein anderes Bild huldigt das Soldatenleben und zitiert dabei voller Inbrunst die Kaiserhymne "Heil dir im Siegerkranz." Gezeigt wird des Kriegers Ehrenkleid. Bei genauerem Hinsehen handelt es sich um ein Epitaph, das einem verstorbenen Soldaten ein Denkmal setzen will. Das Ehrenkleid ist im Grunde sein "Totenhemd".
Der Tag auf dem Flohmarkt beschäftigt mich: Warum hängt jemand einen gerahmten Honecker oder einen toten Soldaten in seine Wohnung? Mir wird klar: Auf dem Flohmarkt hat nicht nur der Trödel seine Geschichte. Auch die Menschen erzählen durch den Kauf bestimmter Dinge von sich – ob sie wollen oder nicht.
Nach drei Stunden beenden wir unsere Expedition und uns wird plötzlich bewusst: "Mist, nichts gekauft".