Kolumne: Berliner Schnauze kann auch nett
23. Oktober 2016Berlin ist so dreckig und ach, die Berliner sind ja so unfreundlich, stöhnt meine Nachbarin Andrea herzerweichend. Nach einem halbjährigen San Francisco-Aufenthalt war sie mit Ehemann und kleinem Sohn nicht ganz freiwillig wieder an die Spree zurückgekehrt. Keine Frage, diese Klage hört man oft in Berlin. Und es stimmt: Die sogenannte "Berliner Schnauze" ist allgegenwärtig, und nur wenige vermuten hinter der rauen Schale einen weichen Kern.
Angst und Schrecken im Supermarkt
Gefürchtet sind zum Beispiel die Berliner Supermärkte, wo man das Gefühl hat, man sei allenfalls geduldet. So mancher Kunde zittert vor den Angestellten, die streng und übel gelaunt an der Theke stehen oder hinter der Kasse thronen. Zum Beispiel im Supermarkt am beliebten Kollwitzplatz, wo eine ältere Kassiererin alles dransetzt, selbst die schlimmsten Befürchtungen noch zu übertreffen.
Gleich bei meinem ersten Einkauf passiert der Gau. Stein des Anstoßes: Ich habe keinen sogenannten "Warentrenner" benutzt. Auf dem Laufband vor der Kasse liegen meine Einkäufe und die einer jungen Mutter ungetrennt nebeneinander. Beide hatten wir einfach vergessen, den Warentrenner dazwischen zu legen. Die junge Mutter, offensichtlich Langzeit-Berlinerin mit einschlägiger Erfahrung, bekommt einen roten Kopf und entschuldigt sich vielmals, um den bissigen Bemerkungen zuvorkommen. Ich selbst bleibe gelassen, versuche abzuwiegeln und sage scherzhaft, das sei ja nun kein Kapitaldelikt.
Ein Fehler, wie sich umgehend herausstellt. Die schroffe Reaktion der Kassiererin lässt nicht lange auf sich warten. Sie ist aus der Kategorie: "Wenn Blicke töten könnten." Wortlos, mit versteinerter Miene, knallt sie mir die EC-Kartenmaschine vor die Brust, dreht mir dann den Rücken zu und hat auch am Ende keine Verabschiedungsfloskel auf den schmalen Lippen.
Ein überschwängliches 'Good Morning'
Als ich noch in den USA lebte, ging es in meinem Umfeld gefühlt viel freundlicher zu. Sicherlich, in der Erinnerung ist alles besser. Doch ich weiß noch genau, wie mir der Rezeptionist meines Bürogebäudes am ersten Morgen ein überschwängliches "Good Morning" zurief. Das Herz ging mir auf.
Ich erinnere mich auch noch an meinen ersten Berliner Arbeitstag. Ich war ziemlich angespannt. Nach Washington war die Latte hoch gelegt. Wie würde der Mann hinter der Glasscheibe reagieren? Ähnlich abweisend wie man es den Berlinern nachsagt? Als ich mich der Glastür näherte, traute ich meinen Augen nicht. Da winkte mir jemand schon von weitem zu, begrüßte mich mit einem fröhlichen "Guten Morgen" und öffnete die Tür, bevor ich mit der Chipkarte selber den elektronischen Impuls auslösen konnte. "Meine Mutter hat immer gesagt, ein Lächeln kostet kein Geld", erklärte mir Torsten Peter seine zuvorkommende Art. Außerdem erfuhr ich, dass er lange im Ausland gelebt hatte.
Ja, ich habe es selber erlebt: Berliner können freundlich sein, ohne dass man sich erst an der harten Schale Blessuren holen muss.
Torsten Peter ist kein Einzelfall. Da ist der unbekannte Fahrradfahrer, der mich beim Überholen vor der Schnalle warnt, die vom Gepäckträger herunterhängt und sich in den Speichen verfangen könnte. Oder der nette Busfahrer, der dem Ahnungslosen auch beim dritten Mal noch freundlich berlinernd die Namen der kommenden Bushaltestellen aufzählt.
Die unfreundliche Art nur ein Kommunikationsproblem?
Nach diesen freundlichen Begegnungen taucht eine Frage auf: Ist das mit der Berliner Schnauze vielleicht nur ein Kommunikationsproblem? Ein Freund von mir ist Psychologe und hat die Lösung: Die Berliner seien an sich nicht unfreundlich, sagt er, sondern nur sehr direkt. Das heißt: Der Berliner ist kurz angebunden. Er verzichtet auf den zwischenmenschlichen Zierrat. Und das rein aus Zeitgründen.
Meine hartnäckig nagenden Restzweifel sollten sich dann bald vollends verflüchtigen. Denn beim nächsten Einkauf erlebe ich eine Überraschung. Die bärbeißige Kassiererin von damals ist wie verwandelt. Freundlich und zuvorkommend lächelte sie alles und jeden an, so als wolle sie sich intuitiv dagegen wehren, dass sie in meiner Kolumne als monströses Negativbeispiel herhalten soll. Und um das Verwandlungswunder perfekt zu machen, wünscht sie mir beim Hinausgehen sogar noch einen schönen Tag. Und ich bin um eine Erkenntnis reicher: Berliner Schnauze kann auch nett.