Iran auf der Suche nach neuer Militärstrategie?
31. Oktober 2024Zwei Tage nach dem Vergeltungsangriff Israels auf militärische Ziele im Iran verkündete Irans Regierungssprecherin Fatemeh Mohadscherani, dass der Verteidigungshaushalt um mehr als 200 Prozent erhöht werden soll. Bei der Präsentation des Haushaltsplans in einer Pressekonferenz betonte Mohadscherani: "Wir haben alle Anstrengungen unternommen, um den Verteidigungsbedarf des Landes zu decken." Konkrete Zahlen nannte die Sprecherin jedoch nicht.
Das Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri schätzt das iranische Verteidigungsbudget für 2023 auf knapp zehn Milliarden Euro. Das ist etwa die Hälfte der israelischen Rüstungsausgaben. Im Nahen Osten belegt der Iran den vierten Platz auf der Rangliste der Verteidigungsetats.
"Der israelische Vergeltungsschlag hat erheblichen Schaden angerichtet. Doch die Entscheidung zur Erhöhung des Verteidigungshaushalts wurde nicht ausschließlich deshalb getroffen", erklärt Nahostexperte Hamidreza Azizi von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin im Gespräch mit der DW. Er fügt hinzu: "Das Sicherheitsgefühl in Teheran hat sich in den vergangenen Monaten verschlechtert. Die Entwicklungen im Nahen Osten und im Ukraine-Krieg verliefen anders, als es der Iran erwartet hatte. Der Iran setzte auf seine Stellvertreter wie die Hisbollah gegen Israel und auf einen schnellen Sieg Russlands in der Ukraine. Dieses Kalkül ist jedoch nicht aufgegangen."
Schlag und Gegenschlag
Der Krieg in Gaza läuft weiter. Israel hat angekündigt, die radikal-islamische Hamas zu zerstören, nachdem diese bei dem terroristischen Überfall auf Israel am 7. Oktober 2023 rund 1200 Menschen getötet hatte. Die Hamas ist eine terroristische Organisation und wird entsprechend von der Europäischen Union, den USA, Deutschland und weiteren Ländern so eingestuft.
Gegen die Hisbollah-Miliz im Libanon, die seit dem 7. Oktober Israel regelmäßig mit Raketen angreift, hat die israelische Armee Bodenoperationen im Südlibanon begonnen. Die islamistisch-schiitische Partei und Miliz im Libanon gilt als der zentrale Verbündete des Iran und steht der Führung der Islamischen Republik in Teheran religiös und ideologisch nahe. Auch die Hisbollah wird von den USA, Deutschland und mehreren sunnitischen arabischen Staaten als Terrororganisation eingestuft.
Nach der Tötung des Hisbollah-Chefs Hassan Nasrallah feuerte der Iran 180 ballistische Raketen auf Israel ab. Die meisten Raketen wurden von der israelischen Luftabwehr abgefangen. Ein Palästinenser im Westjordanland kam durch herabfallende Raketenteile ums Leben. Am 26. Oktober reagierte Israel mit einem Vergeltungsangriff, bei dem nach iranischen Angaben vier iranische Soldaten und ein Zivilist getötet wurden.
"Unsere Armee war auf sich allein gestellt", beschwerte sich ein wütender Journalist gegenüber dem Sprecher des iranischen Außenministeriums während einer Pressekonferenz am 28. Oktober und fragte: "Von Russland, das im Ukraine-Krieg unsere Drohnen und Raketen verlangt, haben wir weder das moderne Luftabwehrsystem S-400 erhalten noch die SU-35S-Kampfjets. Wie bewertet die Regierung diese schamlose Haltung des Aggressors Herrn Putin?"
Schädliche Rüstungskooperation mit Russland?
Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 hat Moskau seine Kooperation mit Teheran deutlich intensiviert. Nach Angaben des ukrainischen Geheimdienstes soll Russland bereits bis Ende 2022 mehr als 2.000 Drohnen aus dem Iran gekauft haben. Aufgrund von Meldungen über die Lieferung ballistischer Raketen an Russland verhängte die Europäische Union Mitte Oktober neue Sanktionen gegen den Iran.
Russland soll dem Iran die Lieferung des modernen Luftabwehrsystems S-400 signalisiert haben. Einige Varianten dieses Systems verfügen über ein Radar, das selbst moderne Tarnkappenflugzeuge orten kann, möglicherweise sogar die von Israel eingesetzten amerikanischen F-35-Jets. Der Iran besitzt derzeit einige S-300-Systeme, die ältere Generation des russischen Luftabwehrsystems. Die russischen Suchoi SU-35 Kampfjets, die seit 2016 im Gespräch sind und für die bereits iranische Piloten in Russland ausgebildet wurden, hat Russland noch nicht geliefert.
"Israel hat dem Iran gezeigt, dass es, wenn es will, Angriffe auf Ziele im gesamten Iran durchführen kann. Dafür hat es seine Kampfjets eingesetzt, die sämtlich unversehrt zurückgekehrt sind", erklärt der Terrorismusexperte Hans-Jakob Schindler vom transatlantischen Thinktank Counter Extremism Project (CEP) im Gespräch mit der DW.
Suche nach Verbündeten
Laut der israelischen Armee waren an diesem Angriff mehr als 100 Kampfjets beteiligt, die über einen Zeitraum von etwa fünf Stunden mehrere militärische Ziele zerstörten. US-Wissenschaftlern zufolge zeigen kommerzielle Satellitenbilder, dass Israel bei seinen Luftangriffen auf den Iran unter anderem Anlagen zur Herstellung von festem Raketentreibstoff getroffen hat. Dies könnte die Fähigkeit des Iran zur Massenproduktion von Raketen erheblich beeinträchtigen, erklärt Decker Eveleth von der Denkfabrik CNA in Washington gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters.
Zu den zerstörten Einrichtungen gehörte möglicherweise auch eine Anlage in Shahroud, etwa 1200 Kilometer von der Westgrenze des Iran entfernt.
Der Iran behauptet, der israelische Angriff habe nur geringe Schäden verursacht. Dank intensiver diplomatischer Bemühungen in der Region sei das Land vorbereitet gewesen, erklärte der iranische Außenminister Abbas Araghchi. In den letzten Wochen habe Araghchi versucht, die Nachbarländer Irans dazu zu bewegen, Israel die Nutzung ihres Luftraums zu verweigern. Die Präsenz und militärische Macht der USA in der Region sei eine Tatsache, sagte er am 30. Oktober, und Israel habe den Angriff über einen von den Vereinigten Staaten geschaffenen Korridor ausgeführt.
"Die iranische Regierung hat ihre diplomatischen Bemühungen verstärkt und sucht nun auch den Dialog mit dem Westen, insbesondere mit den USA", bestätigt der Nahostexperte Hamidreza Azizi. "Teheran könnte die derzeit antirussische Stimmung nutzen, um sich von Russland zu distanzieren." Bei der Erhöhung des Verteidigungshaushalts sei zu beachten, dass darin auch die Gehälter des Personals berücksichtigt würden. Aufgrund der hohen Inflation und der anhaltenden Wirtschaftskrise herrsche Unzufriedenheit unter den Regierungsangestellten. Durch die Aufstockung des Verteidigungshaushalts könnten die Löhne des Militärpersonals verbessert werden.