Corona: Konzert-Experiment mit Publikum?
21. August 2020Abgesagte Konzerte, verschobene Aufführungen, Sportveranstaltungen vor leeren Rängen: Die Corona-Pandemie hat die Kultur- und Unterhaltungswelt auf den Kopf gestellt. Das kulturelle Leben ist eingeschränkt. Existenzen von Veranstaltern, Künstlern und Dienstleistern sind gefährdet. Selbst kreative Konzepte können die Ausfälle nicht kompensieren. Open-Air im Herbst und Winter wird kaum mehr möglich sein. Alternativen müssen her.
Der Bundesverband der Konzert- und Veranstaltungswirtschaft (BDKV) fordert für die Zeit ab September schon mal ein Überbrückungsprogramm für seine Mitglieder. Der Schaden im Wirtschaftsbereich beträgt bis Ende September laut Schätzung des Verbandes rund 420 Millionen Euro.
"Es lässt sich derzeit sehr schwer zuverlässig beurteilen, wann Veranstaltungen wieder in wirtschaftlich tragfähigem Umfang stattfinden können", sagte Verbandspräsident Jens Michow der Deutschen Welle. Seit Monaten fordere der Verband eine einheitliche Abstimmung zwischen Bund und Ländern, "die es uns ermöglicht, koordiniert und vorausschauend zu kalkulieren".
Kulturstaatsministerin Monika Grütters hat inzwischen zwei weitere Hilfsprogramme zugesagt: Mit 80 Millionen Euro sollen Musikfestivals und Veranstalter unterstützt werden, die jeweils bis zu 250.000 beziehungsweise 800.000 Euro beantragen können. Mit 27 Millionen Euro sollen zudem Musikklubs und Spielstätten mit Livemusik gefördert werden. Beide können jeweils Finanzhilfen von bis zu 150.000 Euro beantragen.
Auf der Suche nach Lösungen hat derweil das Universitätsklinikum Halle ein Experiment konzipiert - das Projekt "Restart-19". Dabei soll der Sänger Tim Bendzko unter verschiedenen Bedingungen in einer Leipziger Veranstaltungshalle auftreten - vor Publikum. Vorgesehen sind am Samstag (22. August 2020) drei Simulationen: ein Auftritt unter Maßgaben wie vor der Pandemie, der zweite Durchgang mit einem "optimierten Hygienekonzept" sowie ein drittes Szenario mit den geltenden Abstandsregeln, an dem nur noch die Hälfte des Publikums teilnimmt.
Ziel: Keine Gefahr für das Publikum
Dafür hatte das Klinikum 4200 Freiwillige gesucht. Gemeldet haben sich - trotz verlängerter Anmeldefrist - jedoch nur gut halb so viele. Ob sich die geringere Teilnehmerzahl auf die Durchführung auswirkt, ob der Ablauf angepasst werden muss oder dadurch die Ergebnisse beeinflusst werden, ist vor der Veranstaltung offen. Das Universitätsklinikum möchte auf Anfrage der Deutschen Welle nicht Stellung nehmen: "Kein Kommentar, kein Interview in den Tagen vor unserer wissenschaftlichen Untersuchung", heißt es dort.
So sind auch Nachfragen zu Aussagekraft und Nutzen der geplanten Studie nicht möglich. Zum Ziel der Veranstaltung heißt es auf der eigens dazu geschalteten Website: "Durch das Projekt Restart-19 sollen mögliche Rahmenbedingungen identifiziert werden, unter denen Künstler und Sportler nach dem 30. September 2020 wieder spielen und auftreten können, ohne dass von diesen Veranstaltungen eine Gefährdung für die Bevölkerung ausgeht."
Die freiwilligen Teilnehmer werden vorab auf Corona getestet, der Einlass ist nur mit einem negativen Testergebnis möglich. Zudem erhalten sie FFP2-Masken, die auch die Träger weitgehend schützen. Eine Ansteckung durch Tröpfchen/Aerosole sei aufgrund der Verwendung von FFP2-Masken "sehr unwahrscheinlich", heißt es auf der Website.
Schmierinfektionen und Abstand
Untersucht werden sollen bei dem Experiment Bewegungsmuster von Konzertbesuchern. Für diesen Zweck erhalten alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer sogenannte Contact Tracer, die den Abstand zu anderen Besuchern messen und Rückschlüsse auf erhöhte Risiken an bestimmten Orten geben sollen, etwa dem Eingangsbereich. Aus den Erkenntnissen sollen "Schwerpunkte für künftige Hygienekonzepte" erfolgen.
Ein fluoreszierendes Desinfektionsmittel, das die Probanden regelmäßig anwenden müssen, soll zudem Aufschluss darüber geben, welche Stellen sie besonders häufig berühren und im laufenden Betrieb entsprechend häufig desinfiziert werden müssten. Allerdings stellen die Veranstalter auch hierzu fest, "dass Schmierinfektionen [...] nur eine untergeordnete Rolle" spielten.
Aktuelle Studien aus Australien und Japan belegen die bisherigen Erkenntnisse, wonach die Übertragungsgefahr durch die Luft besonders groß ist und sich durch trockene Luft und in geschlossenen Räumen erhöht. Aerosole, winzige Schwebeteilchen in der Luft, verbreiten sich besonders über Nähe, lautes Sprechen oder Gesang. Ein gut besuchtes Hallenkonzert ist dafür der ideale Ort.
Keine Realbedingungen
Gerade deshalb entspricht die Durchführung nicht den Realbedingungen eines Popkonzerts in einer Halle. FFP2-Masken sind nicht nur schwierig oder teuer zu bekommen, auch das Atmen fällt schwerer als durch eine Stoffmaske. Da deren Akzeptanz im Alltag bereits sinkt, ist fraglich, ob reale Konzertbesucher so diszipliniert wären, ihre Masken während einer Veranstaltung in einer aufgeheizten Stimmung durchgehend zu tragen.
Auch massenhafte Corona-Tests für die Teilnahme von Großveranstaltungen sind bislang nicht vorgesehen. Wer kein begründeter Verdachtsfall ist, muss selbst mit Symptomen in den meisten Bundesländern selbst für die Kosten eines Corona-Tests aufkommen - übrigens auch in Sachsen-Anhalt und Sachsen, die das Konzert-Projekt mit insgesamt 990.000 Euro finanzieren. In Deutschland kostet ein Corona-Test nach Angaben der Krankenkasse DAK zwischen 120 und 190 Euro.
Die Ergebnisse des Experiments werden für Oktober erwartet. Großveranstaltungen sind nach einer Einigung von Bund und Ländern noch bis Ende Oktober verboten - allerdings sind Ausnahmen möglich, von denen Sachsen und Sachsen-Anhalt ab September Gebrauch machen wollen.
Die Veranstaltungsbranche ist für alle Hinweise dankbar, die eine weitgehende Rückkehr zum Regelbetrieb ermöglichen. Fest steht für Verbandspräsident Michow angesichts unveränderter Kosten für Flüge, Mieten, Werbung und Personal aber auch: "Mit Abständen von 1,50 Meter wird sich kein Konzert wirtschaftlich durchführen lassen."