Anti-Corona-Konzepte an Theaterhäusern
19. Juli 2020Beim Blick in den historischen Theatersaal des Berliner Ensembles bekommt der Zuschauer das Gefühl, der Umbau befinde sich noch im vollen Gange. Vor Corona, wie es nun in der neuen Zeitrechnung heißt, saßen hier die Theaterbesucher dicht an dicht auf den Holzklappstühlen mit rotem Samtstoff. Von den 700 Stühlen stehen jetzt nur noch 200 im Saal, weit verteilt, mal einzeln, meist in Zweiergruppen. Ein befremdliches Raumgefühl, jedoch: Wann konnte man sich derart auf ein Stück konzentrieren, ohne mit dem Sitznachbarn um die Lehne zu streiten oder sich über die hochgesteckte Lockenfrisur der Vorderfrau zu ärgern?
Also freie Sicht für alle? Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie verlangen den Theatern viel ab. Geschlossene Räume und Menschenmassen können schnell zu einem Hotspot der Tröpfcheninfektion werden. Da auch hier der 1,50-Meter-Abstand eingehalten werden muss, können die meisten Häuser gerade einmal ein Viertel ihrer Plätze besetzen. Denn die Abstandsregel gilt nicht nur zu den jeweiligen Sitznachbarn, sondern auch zu den Reihen davor und dahinter. Hinzu kommt ein Mindestabstand von 2,50 Metern zwischen Publikum und Bühne.
Theater mit Corona: Loge mit Plexiglas
Manche Theater haben deswegen angekündigt, Plexiglasscheiben einzuziehen. So beispielsweise das Thalia in Hamburg: In den Logen werden die durchsichtigen Trennwände , wie wir sie bereits aus Supermärkten kennen, zwischen den Zuschauern installiert.
Das sind allerdings nicht die einzigen Maßnahmen, durch welche ein gemeinsames Erleben von Aufführungen wieder möglich sein soll, wenn die Theater nach der Corona-bedingten Pause wieder öffnen. Die unterschiedlichen Konzepte beinhalten unter anderem die Aufforderung der Handdesinfektion beim Eintritt, vorerst geschlossene Garderoben und das Einbahnstraßenprinzip, das heißt: separate Ein- und Ausgänge, so dass sich die Zuschauer nicht begegnen. Referenz sind hier die Vorgaben, die vonseiten der zuständigen Länderbehörden gemacht werden.
Desinfektion dank Wasserstoffperoxid-Vernebelung
Gleich an zwei deutschen Theatern, in Augsburg und in Berlin (unser Titelfoto), hat ein aufsehenerregender Test stattgefunden. Mittels einiger Maschinen und Ventilatoren sollte geprüft werden, ob die Säle über das so verteilte Wasserstoffperoxid von potentiellen Coronaviren befreit werden könnten. Die Geräte eignen sich für Räume mit bis zu 150 Kubikmetern. Dabei wird per Kaltvernebelung ein natürlich abbaubares Desinfektionsmittel in der Luft verteilt. So können alle Oberflächen im Raum desinfiziert werden. Diese Verneblungstechnik wurde ursprünglich für Krankenhäuser entwickelt.
Die ersten Tests erstaunten und sind sicherlich nicht nur für die Theaterwelt von Belang: So meldete das Berliner Ensemble, dass dank der Verneblung 99 Prozent der Viren und Bakterien im Raum entfernt werden konnten. Für die kommende Spielzeit ist angedacht, auch Eingangsbereich und Toiletten mit dieser neuen Technik auszustatten.
Auch für Schauspieler gilt: Abstand halten
Einige Theater haben bereits losgelegt - allerdings mit einem stark verändertem Regelbetrieb. Das Residenztheater in München hat sich Anfang Juni das für Museen im Freistaat Bayern genehmigte Hygienekonzept zunutze gemacht und statt einer Aufführung vor vielen Zuschauern einen einstündigen Theaterparcours für einige wenige angeboten. Alle zehn Minuten konnten Gruppen zu vier Personen starten, um an verschiedenen Stationen im und vor dem Gebäude auf Schauspieler zu treffen.
Mitte Juni war es dann wieder erlaubt, dass 50 Personen zugleich im Publikum sitzen. Da auch die Schauspieler zueinander Abstand halten müssen, erschien Antonio Latellas Inszenierung von "Die drei Musketiere", bei der nur vier Schauspieler mitwirken, geeignet. Pausen sind jedoch nicht gestattet - wer zur Toilette muss, wird begleitet. Auch die Residenztheater-Gastronomie ist noch geschlossen.
Neue Spielzeit - neue Pläne
"Wir wollen unbedingt wieder spielen, dies ist unser Auftrag", schreibt der Intendant des Berliner Ensembles, Oliver Reese, auf der eigenen Webseite. Doch den ursprünglich geplanten Spielplan wird man auch hier nicht einhalten können. So wurden extrem körperliche Inszenierungen, wie Michael Thalheimers "Macbeth", bei der sich die Schauspieler anspringen und auch ablecken, erst einmal aus dem Repertoire genommen. "Die Pläne für die nächste Spielzeit mussten in den letzten Wochen völlig neu gedacht und organisiert werden. Aber es ist uns gelungen, in engem Austausch mit den künstlerischen Teams und auch mit unserem Ensemble spielerisch neue Visionen für diese kommende, außergewöhnliche Saison zu entwickeln", so Reese.
Wie die Schauspieler an seinem Haus Begegnung untereinander und mit dem Publikum neu definieren werden, wird noch nicht verraten. Das Ergebnis wird ab der kommenden Spielzeit im September zu sehen sein. Dabei war das Berliner Ensemble auch in der Zeit des Lockdowns nicht untätig und hat über digitale Wege Kontakt zu seinem Publikum gesucht. Ebenfalls ab Anfang Juni gab es dann auch hier einen nicht-virtuellen Versuch - als temporäres Hoftheater unter freiem Himmel.
Große Sorge: Kleine Bühnen und Provinztheater
So finden die deutschen Theater nach und nach ihren Weg zurück in die Kulturlandschaft, die jetzt langsam aus der mehr als drei Monate andauernden Schockstarre erwacht. Viele der deutschen Theater öffnen erst zum Start des neuen Spielplans nach der Sommerpause wieder. Während sicherlich kaum ein Intendant die Corona-Schutzmaßnahmen grundsätzlich in Frage stellt, bleibt ein fader Nachgeschmack: Warum dürfen in Flugzeugen die Passiere viel enger sitzen als im Theater? Welchen Stellenwert hat hier die Kultur im Vergleich zur deutschen Luftfahrt?
Selbst die großen Bühnen sind auf Eintrittsgelder angewiesen; mit einer Auslastung von gerade einmal 30 oder weniger Prozent fehlen wichtige Einnahmequellen. Das hat die Politik längst erkannt, und so werden Theater von Corona-Kulturhilfen unterstützt - doch diese Gelder sind endlich und erreichten nicht alle Institutionen. Große Häuser werden jenseits der Corona-Krise von den jeweiligen Bundesländern langfristig gefördert. Doch schwierig wird es für die kleinen Bühnen: Wenn von 100 Sitzplätzen nur 25 besetzt werden können, rentiert sich eine Wiedereröffnung nicht. So mussten sich viele Provinztheater entscheiden, die Corona-Pause auf unbestimmte Zeit zu verlängern. Bleibt zu hoffen, dass der Vorhang hier nicht für immer gefallen ist.