"Eine Welt ohne Theater? Unmöglich!"
21. Mai 2020"Werther" steht auf dem Spielplan des Freien Werkstatt Theaters in Köln. Zwar würde er kaum so weit gehen wie der Protagonist in Johann Wolfgang von Goethes berühmtem Briefroman (Werther begeht aus enttäuschter Liebe Selbstmord/Anm. d. Red.), doch auch Guido Radermachers leidet: Die Corona-Krise hat das kleine Theater, für das er als Leiter auch finanziell geradesteht, schwer getroffen: Seit Wochen findet kein Spielbetrieb statt. Erst Anfang Juni darf sich der Vorhang - wenn denn das städtische Gesundheitsamt mitspielt - wieder heben.
Doch auch dann dürfen statt 100 Besuchern, die gewöhnlich im Zuschauerraum Platz finden, vorläufig nur 20 hinein - höchstens. "Wir müssen strenge Hygiene- und Abstandsvorschriften einhalten", sagt Radermachers. Zuschauer sollen 1,50 Meter auseinander sitzen. Schauspieler müssen beim Sprechen Abstände von zwei Metern einhalten, bei bewegtem, "intensivem Spiel" sogar fünf Meter. Zusätzliches Personal braucht das Theater im Eingangsbereich, dazu kommen Absperrgitter, Schilder, Desinfektionsmittel. "All das kostet Geld, das wir nicht haben", sagt Radermachers. Bis Jahresende rechnet er mit einem fünfstelligen Minusbetrag. Auf dem drohen die Theatermacher dann sitzenzubleiben.
Tiefer Riss in der Kulturlandschaft
Das Freie Werkstatt Theater in Köln steht beispielhaft für die sogenannte "Freie Szene", der neben kleinen Theatern auch freiberufliche Künstler, Musiker, Tänzer und freie Journalisten angehören. Anders als Stadttheater, Opernhäuser, Orchester und Museen wird die Freie Szene nicht dauerhaft subventioniert. Deutschlands Kulturlandschaft ist gespalten. Und die Corona-Krise hat den Riss noch einmal vertieft: hier die dauerhaft subventionierte Kultur, dort die derzeit mangels Auftritts- und Einnahmemöglichkeiten in ihrer Existenz bedrohte Freie Szene.
Kulturelle Vielfalt hat ihren Preis, doch der lohnt sich: Rund 1,7 Millionen Menschen arbeiten in Deutschland im Kultur- und Kreativbereich, 34 Millionen Menschen besuchten im vergangenen Jahr Theater und Konzerte und 114 Millionen Menschen gingen in die Museen. "Die massiven Einschränkungen des öffentlichen Lebens treffen die Vielfalt unserer kulturellen Ausdrucksformen ganz zentral", erklärt Maria Böhmer, Präsidentin der Deutschen UNESCO-Kommission, in einem Statement für die Deutsche Welle, "nicht nur im Hinblick auf die ökonomische Wertschöpfungskette - mit dramatischen Einkommensverlusten und gefährdeten Existenzen." Kunst und Kultur aber, so Böhmer, seien "essenziell für den Zusammenhalt, die Widerstandskraft und die nachhaltige Entwicklung unserer Gesellschaft". Vor 15 Jahren hat die UNESCO eine Konvention zum Schutz der kulturellen Vielfalt verabschiedet. Böhmer: "Wie weitsichtig das war, wird uns in diesen Zeiten der Pandemie ganz besonders bewusst."
Nach Corona geht es ums Geld
Jetzt geht es ums Geld. "Der Vorteil klassischer Institutionen ist", sagt Julius Heinicke, Kulturpolitik-Experte der Universität Hildesheim, "dass sie eine gewisse Planungssicherheit haben und auch jetzt, obwohl sie nicht spielen konnten oder die Museen geschlossen waren, trotzdem immer diese Sicherheit hatten: Wir können weitermachen!" In der Freien Szene müsse man dagegen schon froh sein, wenn man das nächste Jahr überstehe. "Nach Corona wird es darum gehen: Wie viel Geld gibt es dann noch für die Freie Szene? Welche Förderungen laufen weiter?", so Heinicke im DW-Gespräch. Eine Frage, die auch Guido Radermachers vom Freien Werkstatt-Theater in Köln umtreibt.
Hauptträger der kulturellen Förderung in Deutschland aber sind die Kommunen. Darauf weist Gerhart Baum hin, einstiger Bundesinnenminister und mittlerweile einer der engagiertesten Fürsprecher der Kultur in Deutschland. Die Pandemie hat gigantische Löcher in die Gemeindekassen gerissen. "Die Kommunen sind in einer schlechten wirtschaftlichen Verfassung", so Baum, der auch Vorsitzender des Kulturrates Nordrhein-Westfalen ist. "Wir fürchten, dass sie nach Corona ihre normalen kulturellen Aufgaben nicht mehr voll wahrnehmen können." Vor Budgetkürzungen als Folge des Drucks auf die öffentlichen Kassen hatte zuvor bereits Eckhart Köhne, Präsident des Deutschen Museumsbundes, gewarnt: "Das wäre ein fataler Schritt", so Köhne zur DW.
Steht die Kultur vor einem Desaster? Viele fürchten das. Die Hilferufe werden lauter, die Forderungen immer unverhohlener. Zuletzt mahnte die die deutsche Musikbranche ein staatliches Hilfsprogramm über 580 Millionen Euro an, als nicht zurückzahlbaren Zuschuss. Begründung: Konzerte seien abgesagt, Clubs und Läden zwangsweise dicht. Zahlreiche Existenzen und die kulturelle Vielfalt stünden auf dem Spiel. Auch andere Kulturverbände - von Künstlern, Filmschaffenden, Kinobetreibern, Verlegern - hieben in die gleiche Kerbe. Der Deutsche Kulturrat mahnte zur Eile. "Bislang fehlt ein großes nationales Hilfsprogramm", erklärte sein Geschäftsführer Olaf Zimmermann, "um die kulturelle Infrastruktur erhalten zu können."
"Rettungspakt" der Bundesregierung
Wie es scheint, nimmt die Bundesregierung dafür jetzt mehr Geld in die Hand. Zur Unterstützung der Kulturszene setzt Kulturstaatsministerin Monika Grütters auf ein "Rettungs- und Zukunftspaket" des Bundes. Mit dem Geld sollen "große Härten abgemildert" werden. Von einem "mittleren, einstelligen Milliardenbetrag" ist die Rede, wie das Magazin "Der Spiegel" erfahren haben will - viel weniger, als für andere Wirtschaftsbereiche fließt. Details will Bundesfinanzminister Olaf Scholz Anfang Juni nennen. "Ein Schwerpunkt liegt auf Maßnahmen, mit denen überwiegend privat finanzierte Einrichtungen einen pandemiegerechten Wiederbeginn ihrer Aktivitäten ermöglichen können", so Grütters.
"Eine solche nationale Kraftanstrengung, die Lücken füllt und Strukturen erhält, ist ganz wichtig", sagt der Kulturpolitiker Baum. Er hält die Kultur für demokratierelevant: "Die Kunst ist das Lebenselexier einer freien Gesellschaft. Die Demokratie braucht die Kunst", so Baum, "und übrigens die Kunst auch die Freiheit der Demokratie." Kunst und Kultur seien immer dann relevant, wenn sie Gewissheiten und Gegebenheiten in Frage stellten, sagt Jasmin Vogel, Chefin des städtischen Kulturforums Witten. Auf einer Internet Plattform der Kulturpolitischen Gesellschaft in Bonn hat sie jetzt an einer Essay-Diskussion über die Zukunft der Kultur nach Corona teilgenommen. Ihr Beitrag: "Auf dem Sprung ins Ungewisse".
Nach Werther: "Für immer schön"
Ungewiss ist aus Sicht des Hildesheimer Kulturpolitologen Julius Heinicke die langfristige Finanzierung der freien Szene. "Wenn die Corona-Krise vorbei ist, laufen die Förderungen wieder aus", warnt er, "und dann?" Der Experte schlägt vor, die Entscheidungen über Kulturausgaben künftig nicht mehr allein der Politik zu überlassen. "Unsere Kulturlandschaft ist viel diverser und breiter, als es Politik sein kann. "Künftig sollte man Verbände und Interessengruppen daran beteiligen, die Freie Szene zu fördern", so Heinicke.
Guido Radermachers vom Freien Werkstatt Theater in Köln käme das gelegen. Eine Welt ohne Theater kann und will er sich nicht vorstellen. "Was gibt es Schöneres," fragt er, "als wenn Menschen gemeinsam über ein Thema nachdenken?" So ist aufgeben für ihn keine Option, auch wenn es nach Corona noch schwieriger wird und der Spielbetrieb vor Mini-Publikum sich absehbar nicht rechnet. Und deswegen steht nach "Werther" schon das nächste Stück auf dem Plan. Es heißt: "Für immer schön".