Siegesfeier statt Demonstration
6. Oktober 2018Weiter hinten wird getrommelt, Klavier gespielt, jongliert oder mit Sektgläsern aus Plastik angestoßen, aber je näher man der großen Bühne kommt, desto konzentrierter hören die Menschen zu. Gerade ruft Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock herunter: "Ab morgen muss ein anderer Wind in der Energiepolitik wehen." An diesem sonnigen Oktobersamstag weht ein angenehmer Wind am Rande des Hambacher Forsts bei Köln, wo sich so viele Demonstranten eingefunden haben, dass sie einigen Staub vom Acker aufwirbeln. Angekündigt waren 20.000 Teilnehmer, gekommen waren laut Veranstalter sogar 50.000.
Und das, obwohl die Anreise in das kleine Örtchen Buir, einem Stadtteil von Kerpen für viele Demonstranten zur Geduldsprobe geriet: Statt wie wie üblich 30 Minuten, dauerte es vom naheliegenden Köln schon mal vier Stunden, um zum Wald zu gelangen. Weil ein paar Menschen über die Gleise liefen, musste der S-Bahn-Verkehr zeitweise eingestellt werden, die Shuttlebusse der Veranstalter waren hoffnungslos überfüllt.
Dabei hatte die Großdemonstration "Wald retten, Kohle stoppen" kurz vorher noch auf der Kippe gestanden: Zwei Tage zuvor untersagte die Polizei aus Sicherheitsgründen die Veranstaltung, per Eilantrag setzten die Veranstalter das Demonstrationsrecht dann doch durch.
Rodungsstopp und Kohlekommission
Noch wichtiger aber war eine andere Gerichtsentscheidung, die ebenfalls am Freitag erging und aus den geplanten Protesten eine Siegesfeier machte: Das Oberverwaltungsgericht Münster untersagte RWE bis zum endgültigen Gerichtsurteil, im Hambacher Wald weiter zu roden. Damit können die Umweltverbände neue Hoffnung schöpfen für den noch gut 200 Hektar großen Rest des einst mehr als 4000 Hektar großen Waldgebiets, das eigentlich dem Braunkohletagebau zum Opfer fallen sollte. RWE rechnet mit einem Urteil Jahr 2020, aber die sogenannte Kohlekommission soll bereits in den kommenden Monaten einen Zeitplan für den Ausstieg aus der Braunkohle verkünden.
Darüber spricht auch Linken-Vorsitzender Bernd Riexinger: "In dieser reichen Bundesrepublik muss es doch möglich sein, den Menschen eine Beschäftigung zu bieten, die nicht die Umwelt zerstört", sagt er auf der Bühne unter tausendfachem Applaus.
Nach ihm ist Michael Zobel dran, der seit gut vier Jahren Waldspaziergänge durch den Hambacher Forst anbietet und nach und nach zu einem Aktivisten für den Erhalt des 12.000 Jahre alten Waldes wurde. Auch wenn er sich zu seinem nächsten Spaziergang ähnlich viele Besucher wünscht wie bei der Demo, sagt Zobel: "Bitte bleibt auf den Wegen und lasst dem Wald links und rechts seine Ruhe. Die braucht er dringend." Dann stimmt er einen lauten "Hambi bleibt"-Sprechchor an.
Vom Reaktor-Protest in den Hambacher Forst
Der Hambacher Forst ist zum Symbol für die gesamte Energiepolitik der Bundesrepublik geworden, die in vielen Punkten hinter den eigenen Klimaversprechen zurückbleibt. Für viele Demonstranten geht es an diesem Tag um die Auswirkungen des Klimawandels, der mit Braunkohlestrom befeuert wird. Es sind viele junge Menschen gekommen, aber auch ältere.
Eine von ihnen ist Susanne Erning-Stynen. Die pensionierte Lehrerin aus Kleve am Niederrhein hat schon in den 80er-Jahren an Demonstrationen gegen den "Schneller Brüter" im benachbarten Kalkar teilgenommen. Die Proteste hielten so lange an, bis die Entwicklung neuartige Atomkraftwerk 1991 eingestellt wurde. "Als die Polizei am Donnerstag die Demo am Hambacher Forst untersagte", so erzählt sie, "dachte ich mir: jetzt erst recht!"
Dass Erning-Stynen bei der Demonstration vor dem Wald einen ihrer ehemaligen Schüler trifft, zeigt, wie sehr das Symbol Hambacher Forst Menschen aller Altersgruppen bewegt. Philipp Gröber ist aus Köln angereist. Weil "Natur ein Menschenrecht ist, das nicht mehr gewährleistet ist, wenn es so weitergeht", sagt der 28-jährige Erzieher. Die Stimmung beschreibt er als "superglücklich". "Es könnte sein, dass in letzter Minute ein paar Reden umgeschrieben werden mussten", meint Gröber lächelnd.
Zunächst nur ein Etappensieg
Dennoch: Der vorläufige Rodungsstopp im Hambacher Forst ist für viele Braunkohlegegner eher ein Etappensieg. Aus dem Mitteldeutschen Braunkohlerevier bei Leipzig ist Ilana Krause angereist. Sie hat als Zeichen der Solidarität mit den geräumten Baumhausdörfern ein bunt bemaltes Baumhaus von Leipzig auf ihrem Transporter angekarrt. Auf dem Baumhaus stehen zwei Schriftzüge: "Hambi bleibt" und "Pödelwitz bleibt". Pödelwitz ist laut Krause ein 650 Jahre altes Dorf, das dem Tagebau weichen soll, bis auf 30 Bewohner hätte der Betreiber alle anderen Pödelwitzer bereits mit Geld und mit zurückgefahrener Infrastruktur zum Umzug bewegt.
Hinter dem Baumhaus sind Traktoren aufgereiht, der erste Traktor in der Reihe hält ein selbstgebautes Schaufelrad, mit dem er aussieht wie eine kleinere Version der riesigen Bagger, mit dem der Energiekonzern RWE wenige hundert Meter entfernt das Erdreich abträgt. Er gehört zu einem Biolandhof bei Neuss. Bauer Ralf Ernst findet: "Mit dem Hambacher Forst ist ein Ort in den Fokus gerückt, was es leichter macht, verfehlte Energiepolitik anzuprangern." Sein Kollege Hajo Köbis sagt: "Wir werden nicht leiden, wenn Braunkohle nicht mehr abgebaut wird."
Ein Festival der Umweltschützer
Über diese Sätze herrscht große Einigkeit bei der sehr bunten, vielfältigen Menschenmenge an diesem Oktobertag. Auf der Bühne gibt es den ein oder anderen Vergleich zum bayerischen Wackersdorf, wo bürgerliche Proteste in den 1980ern eine Atom-Wiederaufbereitungsanlage verhinderten. Zwischen den Rednern spielen bekannte Bands, wie etwa Revolverheld, und die Dixi-Toiletten am Rand des Ackers leisten zusätzlich ihren Beitrag dazu, dass sich das bunte Treiben anfühlt wie ein Festival.
Die Sonne steht tief, als sich die Menschen auf den Heimweg machen. Als abreisende Demonstranten auf der Autobahnbrücke jubeln, hupen von unten Autofahrer aufmunternd zurück. Auch am Abend muss die Polizei den Buirer Bahnhof zeitweise abriegeln, der Andrang sei "extrem", sagt die Polizei verwunderten Anwohnern. So einen Tag wie heute hat das kleine Buir noch nie erlebt.