Griechenlands Regenbogenfamilien hoffen auf die Ehe für alle
12. Dezember 2023Bilderbücher, Malstifte und Spielzeuge: In ihrem Wohnzimmer ist Lio Emmanouil umringt von Dingen, die ihr 6-jähriger Sohn Jannis [Name von der Redaktion geändert] aus seinem Zimmer in den Gemeinschaftsraum gebracht hat. "Im Moment liebt er Züge", erklärt die 42-jährige Mutter und lächelt. Ihr gegenüber sitzt ihre Frau, die lieber anonym bleiben will. Seit 18 Jahren sind die beiden ein Paar und wollten unbedingt ein Kind. Sie entschieden sich für die künstliche Befruchtung mit einer anonymen Samenspende.
"Ich durfte in der Klinik nicht sagen, dass ich mit einer Frau zusammen bin", erklärt Lio, die das Kind austrug. "Wir leben in einer eingetragenen Partnerschaft. Schwule oder lesbische Paare dürfen zusammen aber keine künstliche Befruchtung durchführen. Heteropaare schon", kritisiert die Pädagogin und Psychologin. Doch nicht nur das. Jannis´ zweite Mutter hat in Griechenland keinerlei Rechte, was ihr eigenes Kind betrifft. "Lio muss mir für alles eine Bescheinigung schreiben. Theoretisch darf ich meinen Sohn nicht einmal von der Schule abholen", beklagt sie. Dort seien sie zum Glück auf ein relativ verständnisvolles Umfeld gestoßen, auch, weil man in der Schule bereits Erfahrung mit einer Regenbogenfamilie hatte. Doch in Notfällen oder Situationen, in denen die biologische Mutter nicht mehr entscheidungsfähig sei, hätte sie keine Ansprüche. Für die Eltern ist das eine große psychische Last. Lio ist wütend darüber, dass man völlig am Kindeswohl vorbei entscheide: "Würde ich sterben, so ginge das Kind an seine nächsten Verwandten oder käme ins staatliche Wohlfahrtssystem, aber nicht zu seiner Mutter."
Die beiden Mütter hoffen nun, dass Premierminister Kyriakos Mitsotakis Wort hält und endlich das Gesetz über die Ehe für alle auf den Weg bringt. Der Regierungschef hatte nach seiner Wiederwahl im Sommer überraschend versprochen, die Rechte der LGBTQI+-Gemeinschaft zu stärken: "Wir haben in den vergangenen vier Jahren bereits vieles auf den Weg gebracht", so Mitsotakis bei einer Pressekonferenz im September 2023. Jetzt stehe auch die Ehe für alle auf dem Plan: "Nach Ablauf dieser Legislaturperiode wird dieses Thema vom Tisch sein."
Damit kann er aber nicht auf den Rückhalt aller Parteikollegen hoffen. Der einflussreiche rechte Flügel der Partei Nea Dimokratia kann sich mit der neuen Sympathie ihres Parteichefs für queere Menschen nicht anfreunden. "Ich glaube, dass wir die Kernfamilie unterstützen müssen, bei der es Eltern beider Geschlechter gibt, also Mutter und Vater", sagte Antonis Samaras, ehemaliger Ministerpräsident. Er gilt als Widersacher von Mitsotakis und kündigte an, gegen das Gesetz zu stimmen.
Aktivisten fordern volle Gleichstellung
Zahlen dazu, wie viele Menschen in Griechenland in einer ähnlichen Lage sind wie Lio und ihrer Frau, gebe es nicht, erklärt Stella Belia vom Verein Rainbow Families. Seit vielen Jahren setzt sie sich für die Rechte queerer Familien ein, gibt Fortbildungen, in denen sie Menschen im öffentlichen Dienst über queere Menschen aufklärt, ist zu Gast in den Medien und berät die Politik bei Konzepten im Kampf gegen Diskriminierung: "Wir befinden uns in einem legalen Vakuum, was natürlich nichts anderes ist als institutionalisierte Homophobie", sagt sie.
Belia ist selbst Mutter und lebt in einer eingetragenen Partnerschaft mit ihrer Frau. Die griechische Gesellschaft sei durch und durch heteronormativ, nicht-heterosexuelle Menschen seien strukturell benachteiligt, erklärt sie: "Wir fordern die gesetzliche Gleichstellung in der Ehe, bei Adoptionsfragen und eben auch bei Elternschaft durch assistierte Reproduktion." 2005 wurde ein Gesetz reformiert, das Leihmutterschaften erlaubt, bei dem eine Frau ein Kind für andere Eltern austrägt. Männer hätten bei diesen Prozessen keinerlei rechtliche Ansprüche oder Mitspracherechte, und auch dies müsse sich ändern, fordert Stella Belia.
Mit alten Tabus brechen
Für den queeren Filmemacher Menelas [Anm. der Redaktion: Künstlername] liegt das Problem nicht allein in der Politik, sondern auch im gesellschaftlichen Versagen, Dinge beim Namen zu nennen: "In mediterranen Ländern ist alles erlaubt, solange es geheim bleibt", so Menelas gegenüber der DW. Auch er begrüßt das Gesetz, plant selbst aber nicht, zu heiraten. Trotzdem hat der 49-Jährige es satt, sich als Bürger zweiter Klasse zu fühlen. Die griechische Gesellschaft sei in den vergangenen Jahren toleranter geworden, und dem müsse sich nun auch die rechtskonservative Regierung beugen.
Mitsotakis‘ Partei hatte im Jahr 2015 - damals noch in der Opposition - noch vehement gegen die eingetragene Partnerschaft gestimmt. Für Menelas ist auch deswegen der plötzliche Sinneswandel des amtierenden Regierungschefs vor allem ein Versuch, der EU in Brüssel "liberalen Sand in die Augen zu streuen" und von den vielen Negativschlagzeilen bezüglich struktureller Gesetzesbrüche bei Migration oder dem massiven Überwachungsskandal 2022 abzulenken: "Sie brauchen eben auch eine liberale, soziale Agenda und können in der EU nicht nur mit Wirtschaft punkten. Vielleicht ist die Ehe für alle die einfachste Art, um das zu erreichen."
Kritik auch aus der Opposition
Wenn Politiker versuchen, eine illiberale Menschenrechtsagenda mit progressiverer Politik gegenüber der LGBTQI+-Gemeinde zu vertuschen, dann sprechen Betroffene häufig von Pink-Washing. Für Stefanos Kasselakis steht fest, dass es sich auch bei der Ehe für alle in Griechenland um einen solchen Fall handelt. Der 35-jährige neue Parteichef der linken SYRIZA ist selbst schwul und mit einem Mann verheiratet, was dem Politikneuling in seiner Heimat Griechenland auch viel Spott eingebracht hat. Noch vor einigen Jahren aber wäre es undenkbar gewesen, dass Politiker und Politikerinnen in Griechenland sich offen zu ihrer Sexualität bekennen.
Trotzdem ist Kasselakis überzeugt: Der Premierminister mache gute Miene zum bösen Spiel. "Mitsotakis spielt die liberale Karte immer nur dann, wenn er an EU-Ratssitzungen und internationalen Foren teilnimmt oder sich direkt an die LGBTQI+-Gemeinde wendet", so Kasselakis gegenüber der DW. "In Wirklichkeit hat Mitsotakis die Demokratie deutlich geschwächt, beispielsweise was die Justiz angeht, die Verfassungsordnung oder in Bezug auf polizeiliche Repression und Meinungsfreiheit" , kritisiert der Oppositionsführer. Trotzdem dürfte Mitsotakis sich sicher sein, dass sowohl die SYRIZA-Fraktion als auch die Oppositionsparlamentarier der linken Plevsi Eleftherias (Freiheitskurs) für das neue Gesetz stimmen. Denn allein mit Stimmen aus der eigenen Partei wird der Premier voraussichtlich keine Mehrheit finden.