Griechenland: Ex-Banker wird Chef der linken Syriza
25. September 2023Langweilig wird es mit Syriza nie. Seit der charismatische Alexis Tsipras 2008 Chef der griechischen "Allianz der radikalen Linken" wurde, hat die Partei einen einzigartigen Weg hinter sich - einen Weg voller Siege, Niederlagen und Spaltungen. Syriza ist die erste und bislang einzige linksradikale Partei, die in einem europäischen Land regierte: von 2015 bis 2019, allerdings mitten in Griechenlands tiefer Schuldenkrise und in einer Koalition mit den rechtspopulistischen Unabhängigen Griechen (ANEL).
Nachdem Syriza in der Parlamentswahl vom Juni 2023 eine dramatische Niederlage erlitt - sie fiel von 31 auf 17 Prozent - und Tsipras zurücktrat, war die Partei in einem Schockzustand und schien gelähmt. Für die Nachfolge von Tsipras kandidierten vier bekannte Parteigrößen. Die aussichtsreichste in dem parteiinternen Rennen war Efi Achtsioglou, 38 Jahre alt, ehemalige Ministerin für Arbeit und Soziales.
Der fünfte Kandidat der Syriza
Ende August erschien aus heiterem Himmel ein fünfter Kandidat. Stefanos Kasselakis, unbekannt, 35 Jahre jung, Unternehmer, ein Grieche der Diaspora, bis vor wenigen Wochen noch in den USA lebend und offen schwul. Er schaffte es, binnen eines Monats und nach zwei Wahlgängen die Partei zu erobern. 56 Prozent der Parteibasis stimmten am Sonntag (24.09.2023) für Kasselakis. "Heute hat das Licht gewonnen", waren seine ersten Worte nach seinem Sieg vor dem versammelten Parteipublikum in der Nacht zum Montag.
Kasselakis versprach den frustrierten Parteimitgliedern, dass er eine "breite demokratische Partei, die das Land verändern wird", aufbauen werde. Er ist davon überzeugt, dass er den konservativen Premierminister Kyriakos Mitsotakis in der kommenden Wahl besiegen kann - und die Mehrheit der Syriza-Anhänger hofft, dass es stimmt. "Stefanos, fahr fort, ändere alles, bring uns wieder an die Regierung", skandierten die Versammelten vor der Parteizentrale. "Ich werde euch niemals verraten", rief er ihnen entgegen.
Eine einzigartige Prozedur in der Partei
Wie hat es Kasselakis nun geschafft, sich aus dem Nichts in der Partei durchzusetzen? Da ist zunächst die Wahlprozedur: Jeder, der sich als Syriza-Parteimitglied anmeldete, konnte im ersten Wahlgang abstimmen. Diese Prozedur ist mittlerweile in der griechischen Parteienlandschaft üblich. Die Sozialdemokraten von PASOK waren die ersten, die sie 2004 praktizierten. Dann folgten 2009 die Konservativen von Nea Dimokratia, Syriza zog erst im Mai 2022 nach. Am Sonntag fanden 135.000 Menschen den Weg an die innerparteilichen Urnen.
Zweitens hat Alexis Tsipras den Sieg von Kasselakis möglich gemacht. Obwohl der zurückgetretene Vorsitzende sich absolut neutral verhielt, waren viele Syriza-Anhänger fest davon überzeugt, dass ihr geliebter Alexis den Außenseiter Kasselakis als Nachfolger bevorzugen würde.
Hochmoderne Wahlkampagne
Darin liegt auch der dritte Grund: Stefanos Kasselakis stellt das Neue und Unbeschriebene dar. Für seine Wähler verkörpert er die Hoffnung, dass er Mitsotakis besiegen und Syriza wieder an die Macht bringen kann. Allerdings nicht als Partei der radikalen Linken, sondern als eine Partei der progressiven Mitte.
Und viertens schließlich führte Kasselakis eine hochmoderne und sehr effektive Wahlkampagne über die sozialen Medien. Sein Aussehen und seine Ausstrahlung halfen ihm dabei. Er ist jung, groß, sieht gut aus, hat ein strahlendes, unschuldig wirkendes Lächeln und blickt den Menschen direkt in die Augen.
Kasselakis hat zudem eine interessante Biografie: Er studierte Internationale Beziehungen und Finanzen an der renommierten US-amerikanischen University of Pennsylvania. Er bewundert die US-Demokraten und half als Freiwilliger 2008 im Wahlkampfteam von Joe Biden. Er arbeitete bei Goldman Sachs und gründete später eine Reederei. Eine Biografie, die zwar bei der traditionellen Linken in Griechenland nicht unbedingt geschätzt wird, die aber vielleicht dazu passt, Syriza zu einer Partei der progressiven Mitte zu machen.
Life Style...
In den vergangenen Wochen war Stefanos Kasselakis überall in den griechischen Medien präsent. Als Wahlkämpfer und mehr noch als Star der Öffentlichkeit: Kasselakis mithelfend in der Freiluftküche von "Allos Anthropos", einer Wohltätigkeitsorganisation, in den Überschwemmungsgebieten in Karditsa. Kasselakis im verbrannten Wald von Evros. Kasselakis beim Verlassen der Turnhalle. Kasselakis beim Spaziergang mit seiner Hündin.
Der Medienrummel um Kasselakis ging so weit, dass selbst Verwandte ins Fernsehen eingeladen wurden. Sein Bruder, sein Vater, die Mutter seines amerikanischen Lebenspartners, entfernte Bekannte aus Kreta, sogar eine vermeintliche Oma, die sich jedoch als erfunden herausstellte. Man sprach vom "Phänomen Kasselakis". Er antwortete: "Ich bin kein Phänomen, ich bin die Stimme der Gesellschaft."
... und Tabubruch
Gleichzeitig hat Stefanos Kasselakis ein Tabu gebrochen. Mit seltenem Mut für griechische Verhältnisse erzählte er offenherzig, dass er schwul ist und in einer in den USA geschlossenen Lebenspartnerschaft mit seinem Partner Tyler McBeth lebt. Am Abend seines Sieges bedankte er sich öffentlich bei seinem Lebensgefährten. Der größte Teil der griechischen Gesellschaft und ein großer Teil der Medien sind machistisch und homophob eingestellt. Das zeigten auch die vergangenen Wochen: Während des innerparteilichen Wahlkampfs gab es in Medien und sozialen Netzwerken mehrere homophobe Attacken gegen Kasselakis und hässliche sexistische Angriffe gegen seine Kontrahentin Efi Achtsioglou.
Der große Sieger steht jetzt vor mehreren Herausforderungen. Kasselakis muss die Partei reformieren und dabei eine mögliche Spaltung abwenden. Er muss sich in der griechischen Politik behaupten und darf seine Anhänger nicht enttäuschen. Und er steht vor einem ernsten Problem: Er ist zwar Vorsitzender der größten Oppositionspartei, aber er wird bis zur kommenden Wahl im Jahr 2027 keinen Sitz und damit auch keine Stimme im griechischen Parlament haben.
Sein Vorgänger Alexis Tsipras wünschte ihm am Tag nach seiner Wahl kurz, aber aufrichtig, was er auch braucht, um diese Herausforderungen zu meistern: "Viel Glück."