Steht die Kinoszene vor einer Revolution?
10. Juli 2020Nichts ist mehr, wie es war. Das internationale Film-Geschehen ist in Bewegung geraten. Und zwar gewaltig. Hollywood verschiebt seine Blockbuster-Starts im Wochentakt. Filme, die für die große Leinwand produziert wurden, werden plötzlich an Streamingportale verkauft und feiern dort Premiere. Viele Filmtheater und Kinoketten stehen vor einer ungewissen Zukunft. Die Filmverleiher, wichtiges Zwischenglied zwischen produzierenden Studios und dem Publikum, wissen nicht mehr, wann welche Filme gezeigt werden können.
Das sind nur einige Veränderungen, die derzeit in der Kinoszene zu beobachten sind. Auslöser der tektonischen Verschiebungen in der Filmwelt ist natürlich die Corona-Pandemie. Und immer mehr ist abzusehen, dass die Veränderungen, die Corona schon jetzt ausgelöst hat, die weltweit stark vernetzte Kultursparte Film nachhaltig verändern dürfte.
Geplant fürs große Kino - zu sehen auf Tablets, Smartphones und Fernsehmattscheiben
Der Film "Greyhound" ist derzeit nur ein besonders markantes Beispiel für diese Veränderungen. Ursprünglich sollte der amerikanische Kriegsfilm, der eine auf wahren Begebenheiten beruhende Auseinandersetzung zwischen US-Schiffen und deutschen U-Booten während des Zweiten Weltkriegs schildert, im Frühjahr in die Kinos kommen. Doch dann kam Corona. In der Folge wurde der mit Tom Hanks prominent besetzte und mit vielen digitalen Tricks aufgemotzte Kriegsfilm von Sony Pictures an Apple verkauft.
70 Millionen Dollar soll der Deal nach Angaben des Hollywood-Info-Portals "deadline.com" gekostet haben. Nun startet "Greyhound" am 10. Juli exklusiv beim Streamingportal des US-Tech-Giganten, Apple TV+. Ein aufwendig produzierter Kinofilm für die große Leinwand ist nun auf den heimischen Mattscheiben zu sehen. Das allein ist schon bemerkenswert. Doch Studios, Produzenten und Verleihern bleibt derzeit nichts anderes übrig. Ware, die bereits fertig produziert ist, muss irgendwie ans Publikum gebracht werden, so einfach ist das. Ansonsten droht ein (noch größeres) Verlustgeschäft.
James Bond und Co.: Was wird mit den wirklich großen Kino-Blockbustern?
Bei "Greyhound" dürften der Deal noch ohne allzu große Bauchschmerzen über die Bühne gegangen sein. Der Film von Regisseur Aaron Schneider gehört nicht zu den ganz großen, von einem weltweiten Millionenpublikum erwarteten Blockbustern des Jahres. Anders sieht das beim neuen James-Bond-Vehikel "Keine Zeit zu sterben", dem Disney-Film "Mulan" oder Christopher Nolans "Tenet" aus. Das sind Filme, die weltweit viele Millionen Dollar in die Kinokassen spülen sollen. Wenn diese Filme nun unter die Corona-Räder geraten, droht eine finanzielle Katastrophe.
"Wenn Hollywood hustet, hat das weltweite Kinogeschäft ein schwere Grippe" schrieb das deutsche Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" diese Woche - und richtig: Wenn Blockbuster immer wieder neu verschoben werden, dann hat das Auswirkungen auf Kinobesitzer, Filmverleiher und die ganze Infrastruktur der Filmszene - und das weltweit. Der Disney-Film "Mulan" zum Beispiel hatte vor allem auf den millionenschweren Markt in China geschielt. Doch auch dort müssen die Kinos nach anfänglichen Wiedereröffnungen zum Teil wieder dicht machen. Corona ist zurück. Nicht anders sieht es in der Kinolandschaft der Vereinigten Staaten aus, die aufgrund der stark steigenden Infektionszahlen äußerst vorsichtig agieren muss.
Coronakrise: ein paar Gewinner und viele Verlierer in der Filmszene
Grundsätzlich gilt: Für viele Kinos lohnt ein Geschäft nicht mehr, wenn strenge Sicherheitsvorkehrungen dafür sorgen, dass nur noch ein Drittel eines Saals besetzt ist. Dann lieber gar nicht spielen, heißt die Devise so mancher Kinobetreiber.
Ein paar Gewinner gibt es in der Szene allerdings auch. Die großen Streaminganbieter Netflix, Amazon, Disney und Apple gehören dazu. Doch auch Netflix agiert zum Beispiel inzwischen als eigenständiger Produzent von Filmen. Durch die langen Unterbrechungen bei den Neu-Produktionen gerät auch hier der Nachschub ins Stocken.
Auch kleinere und anspruchsvolle Streaminganbieter wie "Mubi" sind derzeit stark gefragt. Filmverleiher, die sich langsam wieder auf den Markt trauen und die ersten Kinos wieder beliefern, kommen mit Dokumentationen, Wiederaufführungen älterer Filme und anspruchsvollen Arthouse-Produktionen. Auch die Autokinos erleben einen Boom. Doch das sind Randphänomene bzw. Nischenmärkte, die nicht darüber hinwegtäuschen dürfen, dass eine millionenschwere Branche ins Trudeln gerät.
Kippt ein jahrzehntelang eingespieltes kulturell-wirtschaftliches System?
Jahrzehntelang eingeübte Mechanismen in der Kinoszene werden in diesen Wochen in Frage gestellt. Bis jetzt war es so: Ein Kinofilm hatte Premiere und sicherte Produzenten, Verleihern und Kinobesitzern Einnahmen - das sogenannte "Kinofenster". Als zweiter Schritt folgte Monate später eine Auswertung über Trägermedien wie DVD oder Blu-ray. Hinzu kamen in den letzten Jahren die Streamingportale, die die kleinen Silberscheiben ergänzten bzw. ersetzen. Als dritte Einnahmequelle folgte dann, wiederum zeitversetzt durch den Rechte- und Lizenzverkauf, der Markt der frei empfangbaren TV-Stationen.
Dieses System verändert sich gerade dramatisch. Die Frage ist nun: Deutet sich hier ein Paradigmenwechsel an, wird es demnächst das "Kinofenster" nicht mehr oder nur noch in Ausnahmefällen geben? Oder findet das System nach einer möglichen Eindämmung des Corona-Virus wieder in die Spur?
Und noch ein anderes scheinbar festgefügtes Bild gerät gerade ins Wanken. Bisher standen die amerikanischen Major-Studios (Disney, Sony, Warner, Universal oder Paramount) für das große globale Geschäft auf der einen Seite und unabhängige, kleinere Produzenten (die Independent-Szene) und der gesamte Arthouse-Bereich auf der anderen Seite. Auch dieses System implodiert gerade scheinbar.
Was wird mit Netflix, wenn Disney und Apple durchstarten?
Erfolgreiche neue Streaminganbieter wie Netflix werden plötzlich zur Konkurrenz der etablierten Major-Studios, deren Einnahmen drohen wegzubrechen. Wo bleiben in diesem Verdrängungswettbewerb die Unabhängigen? Zur Unübersichtlichkeit und sich ständig verändernden Lage gehört auch, dass sich Disney (und demnächst auch Warner) eigene Plattformen für das Home-Viewing zugelegt haben.
Wenn nun Kinofilme direkt von den Streamingportalen vermarket werden - oder gleich als DVD in Umlauf kommen, was momentan auch geschieht, wenn fertig produzierte Filme als VoD (Video on Demand) angeboten werden, stellen sich mehrere Fragen: Wer verdient künftig an was? Lohnen sich teure Produktionen noch in dem Maße wie früher? Welche Kinos können überleben? Werden sich (zumindest in Europa) Staaten und Kommunen finanziell für eine Kulturbranche im Umbruch engagieren? Geht das Kino dann den Weg in die subventionierte Kultur - wie Oper, Theater oder der Konzertbereich?
Beantworten kann diese Fragen derzeit niemand. Alles hängt von der Entwicklung eines Impfstoffes bzw. wirksamer Medikamente ab. Die Entwicklung der Corona-Pandemie kann keiner voraussagen. Die Kino- und Filmbranche wird weiter bangen müssen.