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Corona im Kinoland Frankreich

Andreas Noll
6. Juli 2020

Nach den USA ist Frankreich der zweitgrößte Filmexporteur der Welt. Doch die Corona-Pandemie hat die Filmbranche hart getroffen. Wie steht es um die Zukunft einer Branche, die für das Land eine zentrale Bedeutung hat?

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Sicherheitshinweise am Eingang eines Kinos in Paris
Bild: Getty Images/AFP/T. Coex

"Wie ein echtes Neugeborenes sieht es natürlich nicht aus", sagt Jeanne Granveaud, nachdem sie gerade eine Szene mit einer motorbetriebenen Babyattrappe abgedreht hat. In Corona-Zeiten muss die Filmbranche bittere Pillen schlucken. Ein echtes Neugeborenes wäre in der Familienserie, die Granveaud zur Zeit für den großen privaten Fernsehkanal TF1 dreht, länger im Bild gewesen - so bleibt es bei kurzen Szenen.

Das Baby-Problem gehört zu den kleineren Corona-Sorgen der Produktionsleiterin - ebenso wie die Tatsache, dass die Szenenbildner plötzlich im Hochsommer bei 40 Grad Celsius eine Winterlandschaft herzaubern müssen. Einige zehntausend Euro hat das Silikon-Baby gekostet - ein vergleichsweise kleiner Zusatzaufwand in turbulenten Zeiten.

"Als Präsident Macron Mitte März die Ausgangssperre verkündet hat, war das für uns eine Katastrophe", erinnert sich Granveaud. An zwei Orten parallel hatte ihr Team zu diesem Zeitpunkt gedreht: in Paris und in La Rochelle an der Atlantikküste. Von einem Tag auf den anderen mussten die Beteiligten die Koffer packen. Immerhin: Weil der Abbruch behördlich verfügt war, bezahlte die Versicherung. Doch das wird nicht so bleiben. "In den neuen Verträgen wird COVID-19 ausgeklammert. Wie jetzt schon die Schweinegrippe und andere Virus-Erkrankungen."

Regelmäßige Corona-Tests fürs Filmteam

Seit Mitte Juni laufen die Kameras wieder an beiden Standorten - unter verschärften Bedingungen. Am Set gilt eine strenge Maskenpflicht, von der nur die Schauspieler bei den Filmaufnahmen ausgenommen sind. Ein Corona-Beauftragter und eine Krankenschwester kümmern sich darum, dass die Abstandsregeln eingehalten werden und das Personal die regelmäßigen Corona-Tests nicht verpasst.

Jeanne Granveaud am Set mit Mundschutz
Produktionsleiterin Jeanne Granveaud am Set in La RochelleBild: privat

"Es gab zunächst Schauspieler, die wollten nur mit Sicherheitsabstand spielen", erzählt Jeanne Granveaud. Aber das war für die Familienserie, die sich auf engem Raum zuträgt und auf Intimität setzt, keine Option. Also haben alle Beteiligten einen "Pakt des Vertrauens" geschlossen. Die einen bleiben während der ganzen Produktion alleine im Hotel, andere kommen mit ihrem Nachwuchs und nehmen das Kind dann für die Zeit der Dreharbeiten aus der Schule. Alles steht unter der Überschrift: Kontakte minimieren.

Keine Kompromisse beim Catering

Und doch wollte das Team nicht alle gewohnten Abläufe in Frage stellen. "Aus den Niederlanden weiß ich, dass die Crew mit ihren Sandwiches zum Dreh kommt. Das geht bei uns nicht. Vorspeise, Hauptgericht, Dessert: Das muss schon sein." Die Produktionsfirma ließ daher eine größere Kantine aufbauen, in der die Abstandsregeln eingehalten werden können.

Für die ohnehin eng kalkulierte Produktion sind das zusätzliche Belastungen, aber Granveaud ist froh, dass es überhaupt weitergeht. "Für die kommenden Monate bin ich zuversichtlich, denn das Fernsehen braucht permanent Nachschub fürs Programm - auch wenn sie sparen müssen, weil der Einbruch bei der Werbung die Sender unter Druck setzt. Beim Kino sieht die Lage schon anders aus."

Seit dem 22. Juni sind die Säle in Frankreich wieder geöffnet. "Die Besucherzahlen sind schlecht", sagt Granveaud.  "Das sind geschlossene Räume, das schreckt die Leute ab. Und jetzt kommt der Sommer und die Menschen fahren in Urlaub."

Mehr als 400 Millionen Euro Verlust

In der Branche geht die Angst um. Immerhin ist der Einschnitt für die Filmnation historisch: Noch nicht einmal während der Weltkriege waren die Kinos 99 Tage am Stück geschlossen. Ein Vierteljahr ohne Einnahmen, aber mit laufenden Kosten - 400 Millionen Euro Verlust haben sich nach Schätzungen des nationalen Kinoverbandes aufgetürmt.

Historische Aufnahme des ersten Stereoskop-Kinos in Paris - "Cinéma en Relief"
99 Tage waren landesweit die Kinos in Frankreich geschlossen - so lange wie nie zuvor in der GeschichteBild: picture-alliance/Keystone/STR

Für die Betreiber der landesweit rund 6000 Kinosäle hat eine Zitterpartie begonnen: Kommen die Kinobesucher nach dem Sommer zurück? Oder zieht Corona die für Frankreich so wichtige Branche mit zehntausenden Beschäftigten in den Abgrund?

Das dicke Ende kommt noch

Nicolas Naegelen ist vorsichtig optimistisch. Er ist Chef eines Unternehmens in Paris für die Postproduktion von Filmen. Polyson tritt auf den Plan, wenn die Filme abgedreht und Ton und Bild in den Studios für die Ausstrahlung oder Vorführung bearbeitet werden. Seine 15 festen und 30 freien Mitarbeiter musste er nur bis Mitte Mai nach Hause schicken. Seitdem arbeitet das Unternehmen wieder - und profitiert momentan davon, dass die Corona-Krise die Postproduktion vermutlich mit Verzögerung treffen wird. Denn derzeit arbeiten die Teams an Filmen, die schon vor dem Corona-Ausbruch abgedreht waren.

Kinobesucher mit Mundschutz in einem Kinosaal in Paris
Kino mit Sicherheitsabstand: Voll besetzte Kinosäle sind in Frankreich erst einmal nicht in SichtBild: picture-alliance/abaca/J. Domine

Noch sind sowohl Festangestellte als auch Freie in der Branche vergleichsweise gut abgesichert, viele leben vom Kurzarbeitergeld. Doch auf Dauer wird der Staat nicht alle Lücken stopfen können. Es wird darauf ankommen, wie sich die Einnahmen des Centre national du cinéma (CNC) entwickeln. Bisher sind die Kassen der staatlichen Institution noch gut gefüllt, aber das kann sich ändern: Der Fonds speist sich aus Beiträgen der TV-Sender, die jetzt Werbeeinbußen beklagen, und aus einer Steuer auf Kinotickets in Höhe von 10,72 Prozent.

Verband warnt vor Kinosterben

Weil Kino in Frankreich die mit Abstand beliebteste Freizeitbeschäftigung ist, spült der Verkauf von rund 200 Millionen Kinokarten in normalen Jahren viel Geld in die CNC-Kassen, die davon die Produktion weiterer französischer Filme antreiben. Mit rund 250 Produktionen pro Jahr ist Frankreich die nach den USA und Indien größte Kino-Nation. Richard Patry, Präsident des nationalen Kinoverbandes, sieht die Lage kritisch: Den verlorenen Umsatz der vergangenen Monate müssten die Kinos mit einer Auslastung nachholen, die durch die Abstandsregelungen bei maximal 50 bis 80 Prozent liegen kann. Bei gleichbleibenden Kosten. Weil das unmöglich ist, werden wohl viele Kinos nicht überleben.

François Ozon auf der Berlinale 2019
Musste die Produktion seines neuesten Films wegen Corona verschieben: Star-Regisseur François OzonBild: picture-alliance/dpa/E. Chesnokova

Treffen dürfte es vermutlich erst einmal die kleinen Betreiber, die nicht zu den großen Ketten gehören. Zumal die Kinos auch noch abhängig sind von der Corona-Entwicklung in den USA. Zwischen 45 und 60 Prozent ihrer Einnahmen stammen aus der Vorführung von US-amerikanischen Filmen - doch Hollywood hat viele Blockbuster ins kommende Jahr verschoben. Die Filmindustrie in den USA ist aktuell noch viel stärker von der Corona-Entwicklung betroffen als ihr Pendant in Europa.

Verlierer sind die Jungen

Während in der Branche noch gerätselt wird, ob die Franzosen nach dem Sommer wieder in die Vorführsäle strömen oder ob vielleicht die großen Streamingportale wie Netflix oder Amazon ihre im Lockdown gewonnen Marktanteile zu Lasten des Kinos ausbauen, stehen die ersten Verlierer schon. "Es wird besonders die jungen Schauspielerinnen und Schauspieler treffen, die noch nicht etabliert sind. Genauso bei den Technikern. Diejenigen, die jetzt von den Filmhochschulen kommen und nach den Ferien eine Arbeit suchen, werden es sehr, sehr schwer haben", glaubt der Unternehmer Nicolas Naegelen. Ähnlich sieht es Jeanne Granveaud.  

Doch die Produktionsleiterin macht sich Mut: "In der Geschichte war es bislang immer so: Wenn die Leute Geldsorgen haben, sich den Urlaub nicht mehr leisten können, dann gehen sie mit ihren Kindern ins Kino." Ob diese Regel auch in Corona-Zeiten gilt, wird sich frühestens im Herbst zeigen.

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