Hat das Kino noch eine Zukunft nach Corona?
28. April 2020"Film und Kunst nach dem Kino" hieß ein Buch, das Lars Henrik Gass, Chef der renommierten Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, vor acht Jahren veröffentlicht hat. Darin machte sich Gass, seit 1997 Leiter des Festivals im Ruhrgebiet und darüberhinaus einer der klügsten Denker in Sachen Kino-Zunft hierzulande, Gedanken über den Ort Kino und die Zukunft des Films im Allgemeinen. Das war lange vor Corona.
Nun werden mancherorts die Totenglocken für die Institution Kino geläutet. Kann sich der Kulturort Kino nach wochen- oder gar monatelangen Filmtheaterschließungen überhaupt noch einmal erholen? Ein paar Pessimisten gehen schon davon aus, dass die Branche nicht mehr auf die Beine kommt - zumindest nicht mehr in alter Form. Rund 17 Millionen Euro Einnahmen verlieren allein die deutschen Kinos derzeit Woche für Woche. Manche vermuten, dass Filmliebhaber in Zukunft vermehrt oder gar ausschließlich auf das Angebot der Streaming-Giganten setzen.
Hollywood wird am ehesten zugetraut, die Krise zu überstehen
Blickt man nach Hollywood, immer noch umsatzstärkster, global agierender Produktionsstandort, wird die ganze Größenordnung der Kino-Krise deutlich: "Über Nacht sind wir von einer Branche mit einem Jahresumsatz von 15 Milliarden Dollar zu einer Branche geworden, die drei bis vier Monate lang keinen Penny mehr einnehmen wird", verriet John Fithian, Geschäftsführer des nordamerikanischen Kinoverbandes, vor kurzem dem US-Branchenblatt "Variety". Trotzdem wird Hollywood noch am ehesten zugetraut, den Kopf aus der Corona-Schlinge ziehen zu können.
"Film und Kunst nach dem Kino" - was sich 2012 also noch arg pessimistisch anhörte, könnte nun schneller Wirklichkeit werden, als manche Kulturpessimisten vermuteten. "Die Krise wird eine Menge Verlierer haben", gibt sich Lars Henrik Gass überzeugt: "Die Kinos gehören dazu, weil es die Politik versäumt hat, diesen eine wirklich zukunftsfähige Perspektive zu geben, sei es als Museum, sei es als Absender von Online-Angeboten."
Kann der Kulturort Kino auf Dauer überleben?
Werden die vielen kleinen und mittelständischen Kinos in Deutschland jetzt zu den großen Verlierern der Corona-Krise? "Ich denke, dass diese Krise den Niedergang des kommerziellen Kinos weiter beschleunigen wird", mutmaßt Gass und fordert eine offene Diskussion über den Kulturort Kino: "Umso wichtiger ist jetzt zu klären, was uns Kino als kulturelle Praxis wert ist, wie wir schnellstmöglich eine geregelte Musealisierung des Kinos einleiten können, mit anderen Worten: Wir müssen auf Orten bestehen, die der Filmkunst und der mediengeschichtlichen Besonderheit des Kinos gleichermaßen gerecht werden, und zwar ohne faule Kompromisse mit wirtschaftlichen Überlegungen."
Anders als Theater und Oper, als Kunst-Museen, Bibliotheken und Konzertsäle sind Kinos in erster Linie auch wirtschaftlich geführte Betriebe. Hohe Subventionen und Kulturzuschüsse sind in der Kinobranche nicht üblich - höchstens einmal in Form einer Art "Anerkennungsprämie" für anspruchsvolle Spielpläne im Rahmen von Preisverleihungen. Die kleineren Kinos in Deutschland (aber auch weltweit) haben nun einmal "das Pech", wenn man das so nennen will, in Konkurrenz zu Hollywood und den Multiplexkinos zu stehen
Kino steht im Spannungsfeld zwischen Kunst und Kommerz
Beim Kino zeigt sich, anders als in vergleichbaren Kultursparten, die Schere zwischen Kunst und Kommerz somit sehr deutlich. Die Corona-Krise könnte das radikal zum Vorschein bringen. Haben Arthaus-Kinos also in näherer Zukunft nur noch eine Überlebenschance, wenn sie sich in die Riege subventionierter Kulturbetriebe einordnen? Für Gass ein denkbares Szenario: "Filmkultur wird nur im Museum überleben, das Museum aber kann ein Kino sein oder eine Online-Angebot."
Werden wir also in Zukunft auf der einen Seite die großen Multiplex-Betriebe haben, die ihre "Star-Wars"- und "Avengers"-Programme abspulen - und auf der anderen Seite eine stark subventionierte Kino- und Filmbranche musealer Prägung, die auf Kunst, Experiment und gehobene Unterhaltung setzt? "Darauf wird es wahrscheinlich grob gesagt hinauslaufen, wobei hier sehr viele Zwischenformen und Alternativen vorstellbar sind", meint Lars Henrik Gass.
Gass fordert ein Zusammenspiel der verschiedenen Kino-Institutionen
Gass setzt dabei auf ein dringend erforderliches Zusammenspiel verschiedener Kräfte: "Eins steht fest: Nur wenn alle Akteure, darunter auch die Hochschulen und Festivals, mit den Filmemachern und Kinos gemeinsam agieren, um neuartige Formen der Präsentation, auch online, zu ermöglichen, wird es eine Perspektive für künstlerische Filme geben, werden wir weiter ein Publikum erreichen."
Kritisch sieht Gass dabei auch das Agieren des Staates und der Länder in Sachen Online-Angebot. Hier beherrschen Netflix, Amazon, seit kurzem auch Disney und Apple, den Streaming-Markt: "Die Entwicklung war lange absehbar, interessant ist nur, dass bislang Politik, Filmförderung und Fernsehen nur als Kartell der Vergangenheit agieren und nicht erkannt haben, dass sie etwas grundlegend verändern müssen.
"Filmkultur werde aussortiert, um mit der wirtschaftlichen Macht der Streamingplattformen konkurrieren zu können, beklagt Gass. Das sei aber nicht der Auftrag der deutschen Sender: "Ihr Auftrag ist dem Grundsatz nach kulturell. Dafür erhalten sie Gebühren bzw. Steuermittel."
Die Kurzfilmtage Oberhausen finden 2020 in alternativer Form statt
Zum Schluss noch die Frage nach den Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen. Das weltweit renommierte Festival, das eigentlich am 13. Mai starten sollte, fällt wie alle kulturellen Großveranstaltungen wegen der Corona-Krise in diesem Jahr aus. Zumindest in geplanter Form.
Gass und sein Team haben in den vergangenen Wochen eifrig an Alternativen gebastelt: "Bereits Anfang April haben wir einen Blog auf unserer Website etabliert. Der Blog macht den Prozess der Krise ebenso sichtbar wie diejenigen, die von ihr betroffen sind. Nicht zuletzt bildet der Blog bis Ende Mai Vorlauf und Rahmen des Online-Festivals, in dem rund 350 Filme zu sehen sein werden."
Auch bei dieser ins Digitale abgewanderten alternativen Festivalausgabe zeigt sich Gass als Kulturmensch, der gern Spartengrenzen überschreitet: "Wir kooperieren mit zahlreichen Institutionen und Leuten. Ich habe für den Blog viele Gespräche selbst geführt, etwa mit Herbert Fritsch zur Frage 'Kann man Theater aufzeichnen?' oder mit Jörg Heiser zur Frage 'Was ist so schlimm an Corona-Kunst?' Überdies steuern deutsche Filmemacherinnen und Filmemacher Beiträge zu einer Serie mit dem Titel 'Kann und muss man jetzt Filme machen?' bei."
Gass fordert verstärktes Nachdenken über die Zukunft des Films
Könnte das auch ein Festival-Modell für die Zukunft nach Corona sein? "Wir sind auf dem Weg zu einem Festival, das nicht mehr auf Ort und Zeit beschränkt ist", sagt Gass: "Darüber denke ich schon lange nach. Jetzt müssen wir unter massiver Belastung dafür schnellstmöglich plausible Lösungen finden. Wir diskutieren gerade das Verhältnis dessen, was wir künftig weiter im Kino zeigen und was wir möglicherweise zusätzlich oder alternativ online zeigen wollen."