Balkanroute: Pushbacks durch Frontex?
6. Januar 2021Der Syrer Ali al-Ebrahim ist 22 Jahre alt. 2018 floh er vor dem Krieg aus Manbidsch, einer Stadt in der Nähe von Aleppo, die damals von Kurden kontrolliert wurde. Man hatte ihn zwingen wollen, an den Kämpfen teilzunehmen.
Zunächst versuchte al-Ebrahim es in der Türkei. Als er in Antakya ankam, der ersten Stadt nach der syrischen Grenze, nahmen die türkischen Behörden seine Personalien auf - und schickten ihn ohne Angaben von Gründen zurück nach Syrien, erzählt der junge Mann in sehr gutem Englisch. Eine der Konsequenzen sei, dass ihm von diesem Moment an die legale Einreise in die Türkei fünf Jahre lang verboten ist.
Trotzdem entschied al-Ebrahim, es noch einmal zu versuchen - dieses Mal mit Ziel Griechenland. Er schlug sich bis zur türkischen Ägäisküste durch und setzte mit dem Schlauchboot auf die griechische Insel Farmakonisi über. Von dort brachte man ihn in das Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Leros, wo er einen Asylantrag stellte. Der wurde abgelehnt mit der Begründung, die Türkei sei ein sicheres Drittland.
Ali al-Ebrahim aber kann nicht zurück in die Türkei. Und schon gar nicht nach Syrien. Den griechischen Behörden war das egal: "Der neue griechische Premierminister Kyriakos Mitsotakis ist sehr streng, wenn es um uns Migranten geht", erklärt der 22-jährige Syrer. "Also beschloss ich, nach Albanien zu gehen."
Armbinden mit Europaflagge
Ali al-Ebrahim gibt an, er sei im September 2020 mit fünf Begleitern mit dem Bus ins nordgriechische Ioannina gefahren. Von dort seien sie zur albanischen Grenze gelaufen. Griechische Polizei hätten sie dabei nicht gesehen.
In Albanien aber hätten Mitarbeiter der EU-Grenzschutzagentur Frontex sie aufgehalten und sie den lokalen Behörden im Grenzort Kakavia übergeben. Auf die Frage, woher er wisse, dass es sich um Frontex-Beamte handelte, antwortet al-Ebrahim: "Ich habe sie an ihren Armbinden erkannt." Frontex-Mitarbeiter tragen eine hellblaue Armbinde mit der Europaflagge.
Für 5000 Euro nach Österreich
Ali al-Ebrahim erzählt, er und die anderen Migranten hätten bei den albanischen Behörden um Asyl gebeten, doch man hätte ihnen gesagt, aufgrund der Corona-Pandemie könne man keine neuen Asylverfahren einleiten. Dann habe man sie zurück nach Griechenland geschickt - ohne die griechischen Behörden davon in Kenntnis zu setzen.
Beim zweiten Versuch, nach Albanien einzureisen, hatte der Syrer mehr Glück. Über Tirana und Kosovo schaffte er es nach Serbien, berichtet er im Gespräch mit der DW in einem Flüchtlingslager in der Stadt Sombor nahe der ungarischen Grenze. Von dort aus wolle er weiter nach Österreich. Aber die Schleuser seien teuer: 5000 Euro müsste man zahlen, um österreichischen Boden zu erreichen.
Haft statt Asyl
Die Britin Hope Barker kennt solche Berichte. Sie koordiniert das Projekt "Wave Thessaloniki" in der nordgriechischen Metropole, bei dem Migranten auf der Balkanroute Essen, medizinische Versorgung und Rechtsberatung finden. Thessaloniki sei lange ein sicherer Hafen gewesen, erklärt Barker gegenüber der DW - doch dann trat im Sommer 2019 die neue, konservative Regierung ihr Amt an.
Im Januar 2020 trat ein Gesetz in Kraft, mit dem Griechenland seinen Umgang mit Migranten eindeutig verschärfte: "Anstelle den Asylsuchenden Papiere zu geben, können sie nun bis zu 18 Monate in Haft genommen werden, ohne dass ihr Fall geprüft wird," erklärt Helferin Hope Barker. "Die Haft kann dann noch einmal um 18 Monate verlängert werden."
Pushbacks durch Frontex-Mitarbeiter?
Nicht nur direkt an den Grenzen käme es zu den "Pushbacks" genannten illegalen Abschiebungen, sondern auch im Landesinneren, so Baker. Aus Angst davor würden Migranten auf dem Weg nach Westeuropa griechische Behörden inzwischen meiden. Auch an den Grenzen Nordmazedoniens und Albaniens beobachten die Flüchtlingshelfer "sehr viele Pushbacks".
Dabei häufen sich die Hinweise für eine Beteiligung von Frontex-Mitarbeitern: "Wir haben Zeugenberichte, in denen Menschen sagen, dass die Beamten zum Beispiel Deutsch sprechen, und dass sie eine hellblaue Armbinde mit der europäischen Flagge tragen", sagt Hope Baker.
Frontex weist Vorwürfe von sich
Aufgrund der unübersichtlichen Situation an den Landesgrenzen sei es schwierig, Pushbacks tatsächlich nachzuweisen. "Wir wissen, dass Frontex in Albanien aktiv ist", so Baker weiter. "Wir wissen, dass sie am (griechisch- bzw. bulgarisch-türkischen Grenzfluss, Anm. d. Red.) Evros sind und wir wissen, dass es täglich Pushbacks gibt. Zu denken, dass sie von all dem nichts wissen und nicht daran beteiligt sind, ist unglaubwürdig."
Auf Nachfrage der DW teilt ein Pressesprecher der EU-Grenzschutzagentur mit: "Frontex hat einige der Vorwürfe überprüft und keine glaubwürdigen Beweise gefunden, die diese unterstützen würden." Zudem sei man "entschlossen, die höchsten Standards bei Grenzkontrollen im Rahmen unserer Einsätze einzuhalten." Frontex-Mitarbeiter seien an einen Verhaltenskodex gebunden, der einen Absatz beinhalte, der sich spezifisch auf die Verhinderung von illegalen Rückführungen und die Einhaltung der Menschenrechte beziehe - "in Einklang mit der Europäischen Charta der Grundrechte."
Grenzschutz von außen
Warum schützt die EU-Grenzschutzagentur überhaupt eine EU-Außengrenze von der albanischen Seite aus - also aus einem Nicht-Mitgliedsland? Der DW erklärt der Frontex-Sprecher, Ziel sei es, "den Grenzschutz zu unterstützen, irreguläre Migration zu bewältigen, ebenso wie grenzüberschreitende Kriminalität, darunter den Schmuggel von Migranten, Terrorismus, sowie mögliche Risiken und Bedrohungen bezüglich der Sicherheit zu identifizieren." Und: "Die Kooperation mit Ländern des Westbalkans ist eine Priorität von Frontex. Die Agentur unterstützt sie dabei, EU-Standards und Best Practices bei der Grenzverwaltung und Sicherheit einzuhalten."
Bei all dem lohnt es sich, einen Blick auf die griechische Seite der Grenze zu werfen. Denn während Militär und Polizei an der türkisch-griechischen Grenze allgegenwärtig sind und bei ihrer Arbeit von Frontex-Beamten unterstützt werden, begegnet man in den Bergen zwischen Griechenland und Albanien nur selten Uniformierten. Unter Migranten, die von Griechenland aus weiter nach Westeuropa wollen, gilt diese Strecke daher als sicher.
Der Weg nach Westen
Viele Migranten fahren von Thessaloniki aus nach Kastoria, einem pittoresken Städtchen etwa 30 Kilomter entfernt von Albanien. "Dort soll uns die Polizei vom Bus abholen und zur albanischen Grenze bringen," erzählt Zakarias im Wave-Center in Thessaloniki. Er ist Marokkaner und über die Türkei nach Griechenland gekommen.
Gerüchte wie dieses kursieren häufig unter Migranten. Meist haben sie mit der Wahrheit wenig zu tun. Trotzdem sitzen die Männer am Nachmittag im Bus Richtung Grenze, unter ihnen der 46-jährige Saleh Rosa, ebenfalls aus Marokko. Er ist seit einem Jahr in Griechenland, in Thessaloniki war er lange wohnungslos: "Griechenland ist ein gutes Land, aber ich kann hier nicht leben", erklärt Saleh Rosa. Er will über Albanien, Kosovo, Serbien und Ungarn nach Westeuropa.
Ominöse Polizeikontrollen
Kurz vor der Ankunft in Kastoria hält die Polizei den Bus an. Auf einem Parkplatz stehen Streifenwagen mit uniformierten Beamten. Zwei nicht uniformierte Männer steigen in den Bus und geben an, ebenfalls Polizisten zu sein. Ohne sich auszuweisen konzentrieren sie sich gezielt auf die Ausländer im Bus - und nehmen Saleh, Zakarias und ihre Begleiter fest.
Dann, gegen 23:00 Uhr am selben Abend, schicken die Migranten per WhatsApp eine Nachricht und einen Google-Standort. Sie sagen, dass die beiden Nicht-Uniformierten sie zu einem Ort etwa 15 Kilometer von der albanischen Grenze entfernt gebracht hätten. Später, bei einem Treffen in der albanischen Hauptstadt Tirana, wiederholt Saleh Rosa seine Darstellung und unterstreicht, dass die Beamten keine Papiere kontrolliert hätten.
Unterschiedliche Darstellungen
Auf Anfrage der DW bestätigt die zuständige Polizeidienststelle die Straßenkontrolle und die Existenz der beiden nicht-uniformierten Beamten. Dann aber weicht ihre Darstellung deutlich von der der Marokkaner ab: Man habe klären wollen, ob die Männer sich rechtmäßig in Griechenland aufhielten. Nachdem dies bestätigt worden sei, habe man sie wieder freigelassen.
Nach Angaben der Migranten aber hielt sich nur Saleh Rosa rechtmäßig in Griechenland auf. Die anderen Männer seien nicht erfasst gewesen. Erschwerend kommt hinzu, dass in ganz Griechenland aufgrund von COVID-19 eine Ausgangssperre gilt. Nur in nachweislichen Ausnahmefällen darf man sich von einem Regierungsbezirk in den nächsten bewegen. Selbst mit Papieren hätten die Migranten also zumindest eine Strafe bekommen müssen. Dazu aber äußert sich die Polizei nicht.