Belgrad: Flüchtlingskinder auf der Straße
1. Januar 2021Eiskalter Wind weht durch die Straßen Belgrads. Die Bürger der serbischen Hauptstadt bereiten sich auf das orthodoxe Weihnachtsfest am 7. Januar vor. Trotz Corona sind die Geschäfte geöffnet. In dicke Mäntel gehüllt spazieren die Menschen durch die Einkaufsstraßen oder entlang der neuen Promenade am Ufer des Flusses Sava.
In der Nähe des Fernbusbahnhofs an der Železnička-Straße am Rande des Stadtzentrums zeigt sich ein anderes Bild. In einem kleinen Park direkt gegenüber dem Terminal tummelt sich eine Gruppe Kinder und Jugendlicher. Der jüngste ist 11, der älteste 17 Jahre alt. Sie reisen unbegleitet, die meisten von ihnen kommen aus Afghanistan.
Einige der Minderjährigen sind in weiße Decken gehüllt: "Die habe ich auf dem Markt gegenüber gekauft," erzählt Sherkat. Er trägt Turnschuhe mit kurzen Socken. Auch einige andere Jugendliche bibbern vor Kälte. Allen steht die Müdigkeit ins Gesicht geschrieben. Sie warten auf eine Möglichkeit, weiter in Richtung ungarische oder kroatische Grenze zu ziehen.
Sherkat ist es bereits einmal gelungen, Serbien zu verlassen - doch die Situation auf der EU-Seite der Grenze sei schlimm gewesen: "In Kroatien hat mir die Polizei mein Handy geklaut und mich zurückgeschickt." Auch die Situation in den Flüchtlingscamps in Serbien sei schwierig. Er habe keine Registrierungskarte der zuständigen serbischen Stellen, erklärt er - und wer nicht registriert sei, habe keinen Zugang zu Hilfsleistungen.
Kinder meiden Behörden
Bogdan Krasić von der Hilfsorganisation Save the Children kennt das Problem: "Diese Kinder sind auf dem Weg in andere Länder. Sie wollen nicht in Serbien bleiben. Es gibt auch viele Kinder in den offiziellen Camps für Asylsuchende, aber leider auch eine große Anzahl außerhalb." Es sei nicht einfach, den jungen Menschen zu helfen, da sie sich nicht registrieren wollten. "Sie wollen nach Westeuropa und vermeiden Hilfsorganisationen und die Polizei."
Sherkat und seine Begleiter schlafen auf einer Baustelle gegenüber des Parks, direkt neben der aufwendig sanierten Flusspromenade, an der auch jetzt milliardenschwere Investitionsprojekte entstehen: Einkaufszentren, Hotels, Bürogebäude. In dieser Nacht aber ist die Baustelle verlassen. Leere Flaschen und Konserven, Matratzen und dünne Polyester-Decken zeigen, dass die Jungen vor kurzem noch hier waren. Ein Übersetzer ruft Sherkat an. Der meldet sich und berichtet, dass er und einige andere Migranten am Nachmittag mit dem Bus in die serbische Stadt Bačka Palanka an der kroatischen Grenze gefahren seien. Sie wollten es noch einmal versuchen.
Ziel: Frankreich
Auch Rizvanullah und Ekram aus Afghanistan, beide nach eigenen Angaben 15 Jahre alt, wollen so schnell wie möglich weiter. Mit zwei anderen Jungen schlafen sie an der Flusspromenade. Sie sind in Jacken und Schlafsäcke gehüllt und frieren trotzdem. Matratzen haben sie nicht. Nur ein dünner Plastikmüllbeutel trennt sie vom steinigen Boden.
Rizvanullah will nach Frankreich, dort habe er Verwandte. Er sei dreieinhalb Jahre in der Türkei gewesen. Dort habe er gearbeitet, doch dafür kein Geld bekommen. Dann sei er weiter nach Griechenland gezogen: "Die griechische Polizei hat mich verprügelt und zurück in die Türkei geschickt," berichtet er. Dann habe er es doch noch über Nordmazedonien nach Belgrad geschafft.
Kein Platz im Camp für Minderjährige
Seit zehn Tagen sind Rizvanullah und Ekram bereits in der serbischen Hauptstadt. Rizvanullah hätte gerne einen Platz in einem Camp für minderjährige Migranten, sagt er. Doch das sei nicht einfach: "Ich bin 15 Jahre alt und ich war schon in den Camps in Obrenovac, Šid und Adaševci. Dort haben sie mir nicht geglaubt, dass ich minderjährig bin. Sie haben gesagt, ich müsse in ein Camp für Erwachsene. Sie haben mir keine Karte und keine Papiere gegeben."
Die hier geschilderten Fälle sind keine Einzelschicksale. Viele Minderjährige kommen aus der Türkei über Griechenland auf den Westbalkan. 2015 und 2016 war das öffentliche Interesse an der sogenannten Balkanroute noch hoch. Hilfsorganisationen boten nicht nur Essen und medizinische Versorgungen, sondern auch einen gewissen Grad an Transparenz. Man wusste ungefähr, wie viele Menschen sich zu welchem Zeitpunkt an welchem Ort befanden.
Ein internationales Schmugglernetzwerk
Doch diese Zeiten sind vorbei. Dabei ist weiterhin viel los auf der Balkanroute. Die Zustände, die Flüchtlinge in der Türkei, aber auch in Griechenland antreffen, sorgen für eine deutlich erhöhte Migration auf der Stecke von Griechenland nach Kroatien und Ungarn.
Katarina Jovanović ist Psychologin und Forscherin. Für den "Balkan Migration and Displacement Hub" von Save the Children haben sie und ihr Team 40 minderjährige und unbegleitete Flüchtlinge auf den Straßen von Belgrad interviewt und eine Studie verfasst. Dabei fanden sie heraus, dass die Kinder zwar allein reisen, während ihrer Flucht aber unter der Kontrolle von Schmugglern stehen: "Sie erzählen von einem 'Kachakbar', einer Art Chefschmuggler, der in Afghanistan sitzt und in Kontakt steht mit den Schmugglern von Ort."
Die Rolle der Eltern
Meist wären es die Eltern, die diesen Kachakbar aufsuchten, um den ältesten Sohn allein auf die Reise nach Westeuropa zu schicken. Dafür müssten sich die Familien in der Regel verschulden. "Wir denken, die Eltern würden ihre Kinder einfach so gehen lassen und sich dann nicht mehr kümmern. Aber das stimmt nicht. Sie versuchen ein bestimmtes Maß an Kontrolle zu bewahren", erklärt Jovanović.
Auf der Reise Richtung Westen nehmen dann Schmuggler vor Ort, die vom Kachakbar in Afghanistan informiert werden, mit den Kindern Kontakt auf. Selbst der Zugang zu Bargeld würde so reguliert: "Die meisten Kinder haben kaum Bargeld bei sich. Sie wissen, dass das gefährlich ist. Je nachdem, welche Abmachung die Eltern gemacht haben, bekommen sie dann kleinere Summen Bargeld von den Schmugglern vor Ort." Außerdem stünden die Kinder zumindest streckenweise in Kontakt mit den Eltern. Die Schmuggler würden ihnen Geld für Telefonkarten geben, dabei aber kontrollieren, was sie den Eltern mitteilen.
Gewalt und Missbrauch
In vielen Fällen erlebten die Kinder Gewalt und Missbrauch, mitunter auch sexuell. Darüber aber würden sie mit ihren Eltern nicht reden: "Sie wollen ihren Eltern keine Sorgen bereiten", so Jovanović. "Sie denken: Ich muss da jetzt durch und ich muss stark sein. So werde ich erwachsen. Ich bin jetzt kein kleiner Junge mehr."
"Es gibt ein System", meint Jovanović. "Manchmal beschützt es die Kinder - in den meisten Fällen tut es das aber nicht und die Kinder erleben furchtbare Dinge." Offizielle Hilfe für die jungen Migranten gebe es nicht. Die Corona-Pandemie sei das endgültige Ende der Helfergruppen gewesen, die sich auf der Balkanroute auch um unbegleitet reisende Minderjährige gekümmert hätten.
Immer weniger Daten
Zudem fehlen verlässliche Zahlen zur aktuellen Migration. "Wir sehen große Diskrepanzen bei den Zahlen, die UNHCR auf nationaler und auf regionaler Ebene veröffentlicht", erklärt Bogdan Krasić. "Wir beobachten, dass Kinder aus Griechenland kommen und vermuten daher, dass deren Anzahl in den anderen Ländern auf der Balkanroute ähnlich hoch ist. Aber die UNHCR-Zahlen bilden das nicht ab. De facto wissen wir nicht, wie viele Kinder in diesem Jahr tatsächlich unterwegs waren."
Für Katarina Jovanović sind immer weniger verlässliche Daten zur Migration Teil der Flüchtlingspolitik aller Länder auf der Balkanroute: "Nur dieses eine Mal haben die Behörden uns mit den Kindern reden lassen", erinnert sie sich an die Entstehungszeit ihrer Studie 2018.
Jetzt würde sich niemand mehr diese Arbeit machen, weder UNICEF, noch UNHCR, noch das Internationale Rote Kreuz. "Wir haben eigentlich keinen Zugang mehr zu Daten oder sie kommen nur sporadisch und werden nicht auf Englisch übersetzt. Man kann deutlich erkennen, dass sich die Informationspolitik gewandelt hat."