Steuert Kroatien in Richtung Polen?
22. Dezember 2020Seit 1991, als Jugoslawien auseinanderbrach und Kroatien ein unabhängiger Staat wurde, versuchen konservative Kräfte im Land, das liberale Abtreibungsgesetz aus kommunistischer Zeit zu kippen. Die Regelung aus dem Jahr 1978 erlaubt es Kroatinnen, bis zur zehnten Schwangerschaftswoche abzutreiben - unabhängig von den Gründen und ohne zusätzliche Bedingungen. So die Theorie. In der Praxis jedoch erweist sich die Umsetzung dieses Gesetzes als nicht so einfach, denn es wurde 2003 geändert: Ärzte haben das Recht, den Eingriff aus Gewissensgründen zu verweigern.
Sanja Kovačević von der Organisation "Plattform für reproduktive Gerechtigkeit" räumt ein, dass kroatische Frauenaktivistinnen die Einführung des Verweigerungsrechts "verschlafen" und die Gefahr nicht rechtzeitig erkannt hätten. Erst als die konservative Kroatische Demokratische Union (HDZ) erneut an die Macht kam, wurde ihnen klar, dass diese Änderung problematisch sein könnte. "Es gibt eine gewisse Clique in medizinischen Kreisen und Fachverbänden, die mit den konservativen Organisationen im Lande kooperiert", sagt sie.
"Gynäkologische Gewalt" an Frauen
Immer mehr Kroatinnen fahren inzwischen nach Slowenien, um im Nachbarland abzutreiben. Für linksliberale Aktivisten steht außer Frage, wer Schuld an dieser Entwicklung hat: die mächtige Katholische Kirche und die konservative Regierungspartei HDZ. Abtreibung werde in Kroatien immer stärker stigmatisiert und die Freiheit der Frauen, über den eigenen Körper zu entscheiden, immer häufiger in Frage gestellt, sagen sie.
Religionskunde sei in Kroatien der Sexualkunde übergeordnet, erklärt Kovačević und wählt harte Worte: "Frauen erleben eine Art gynäkologische Gewalt." Wenn sie in ihre lokalen Krankenhäuser gingen und sagten, dass sie abtreiben wollten, würden Frauen, so Kovačević, abgewiesen - nicht selten mit einer gehörigen Portion an Beleidigungen und moralischen Predigten.
Das belegen auch die Ergebnisse einer Studie, die der kroatischen Beauftragten für Gendergerechtigkeit, Višnja Ljubičić, zur Verfügung stehen. Die Untersuchung wurde in 30 kroatischen staatlichen Krankenhäusern und Kliniken durchgeführt, in denen - zumindest theoretisch - Abtreibung möglich sein sollte. "2014 haben 54 Prozent des medizinischen Personals das Verweigerungsrecht in Anspruch genommen, 2018 waren es schon 59 Prozent. In Slowenien nutzen dieses Recht hingegen nur drei Prozent der Mediziner“, sagt Ljubičić.
Die Gleichstellungsbeauftragte berichtet auch, dass die Frauen sich oft bei ihr beschwerten, weil sie in Krankenhäusern verstörendes Info-Material gegen Abtreibung in Form von Flugblättern und Plakaten vorfänden. Nach Ljubičićs Intervention sei dieses Material dann meistens beseitigt worden.
Višnja Ljubičić weiß, das beide Rechte - das Verweigerungsrecht der Ärzte und das Recht der Frau auf Abtreibung - in Kroatien gesetzlich verankert sind. Das bedeute aber nicht, dass ein Recht das andere aushebelt. "Es kann nicht sein, dass ein individuelles Recht eine ganze medizinische Institution wie ein kollektives Recht de facto blockiert", argumentiert die Beauftragte und bietet eine praxisorientierte Lösung: "Wenn alle Angestellten einer staatlichen Klinik dieses individuelle Recht in Anspruch nehmen, muss die Klinik einen externen Arzt engagieren, der die Schwangerschaftsabbrüche durchführt."
Gute oder schlechte Nachrichten aus Polen?
Die Nachrichten über die zusätzliche Verschärfung des ohnehin strengen Abtreibungsgesetzes in Polen haben kroatische Frauenaktivistinnen schockiert. In konservativen Kreisen hingegen, die für ein Abtreibungsverbot in Kroatien kämpfen, lösten sie Begeisterung aus. Die bekannteste kroatische Pro-Life-Aktivistin, Željka Markić, begrüßt die Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts als "Annerkennung der wissenschaftlichen Erkenntnis, dass das Leben schon mit der Empfängnis beginnt."
Damit sei Polen in puncto Kinder- und Menschenrechte ein "Leuchtturm" für die anderen EU-Staaten, sagt die Vorsitzende der Vereinigung "Im Namen der Familie". Das gelte "besonders für ein Land wie Deutschland, das in seiner neueren Geschichte erfahren hat, wie es aussieht, wenn das Recht auf Leben nicht absolut ist, sondern von Nationalität, Religion oder Gesundheit eines Menschen abhängt."
Für Markić ist das Recht auf Abtreibung nicht ein reines Frauenrecht: "Für mich ist es eine Entscheidung der Frauen und Männer. Jedes Kind hat einen Vater und eine Mutter. Und die Männer dürfen mitentscheiden." Den Umfragen, nach denen die Mehrheit der Kroaten gegen ein Abtreibungsverbot ist, schenkt Markić keinen Glauben. Sie vertritt die Meinung, dass jeder Mensch verpflichtet sei, das Menschenleben "von der Empfängnis bis zum Tod zu schützen".
Recht auf Abtreibung ist verfassungskonform
Die konservativen Kräfte im Lande haben versucht, das geltende Gesetz aus dem Jahr 1978 vor dem Verfassungsgericht zu kippen. 2017 hat aber das höchste kroatische Gericht ihre Klage abgelehnt und entschieden, dass das bestehende Gesetz verfassungskonform ist. Gleichzeitig aber wurde die Regierung damit beauftragt, das alte Gesetz zu erneuern und mit präventiven Maßnahmen zu vervollständigen, damit die Abtreibung eine Ausnahme und nicht die Regel wird. Diese Aufgabe hätte schon 2019 erfüllt werden müssen - bis heute ist nichts geschehen.
Aktivistinnen für Frauenrechte in Kroatien erwarten einen schwierigen Kampf um das neue Gesetz - aber eine Niederlage schließen sie aus. Kroatien, sagt Sanja Kovačević von der "Plattform für reproduktive Gerechtigkeit", habe zwar Ähnlichkeiten mit Polen, denn in beiden Ländern spiele die Katholische Kirche eine starke Rolle. Trotzdem glaubt sie nicht, dass Kroatien den polnischen Weg einschlagen wird. Kovačević und ihre Mitstreiterinnen fühlen sich durch die Entscheidung des Verfassungsgerichts aus dem Jahr 2017 gestärkt: Das Recht auf Abtreibung ist in Kroatien verfassungsgemäß.