Griechenlands illegale Abschiebungen
21. Mai 2020"Kommen Sie mit und wir stellen Ihnen neue Papiere aus", sagte ein griechischer Polizist zu Bakhtyar an einem Mittwochmorgen Ende April. Der 22-jährige Afghane glaubte, das Angebot werde ihn seinem Traum näherbringen, ein neues Leben in Europa zu beginnen. Stattdessen erlebte er einen herben Rückschlag.
Zwei Monate zuvor hatte Bakhtyar den Fluss Evros überquert, die natürliche Grenze zwischen der Türkei und Griechenland, die viele Flüchtlinge zu überwinden versuchen, um in die Europäische Union zu gelangen. Er schaffte es bis nach Diavata, einem Flüchtlingslager am Rande von Thessaloniki, der zweitgrößten Stadt Griechenlands. Direkt nach seiner Ankunft meldet er sich bei der griechischen Polizei. Ein Foto des Dokuments zeigt das Datum: 12. Februar 2020. Die Registrierung bei der Polizei ist ein erster Schritt im Asylverfahren. Einen offiziellen Antrag auf Asyl konnte er nicht stellen, weil die meisten Ämter während des strengen Corona-Lockdowns geschlossen waren.
Bakhtyar - abgeschoben, bevor er Asyl beantragen konnte
Die Polizeibeamten, die ihn ansprachen, so berichtet Bakhtyar, brachten ihn in einem weißen Kleinbus auf ein Revier im Zentrum von Thessaloniki. Dort bekam er aber nicht, wie versprochen, neue Papiere. Stattdessen, so schildert er, nahmen ihm die Beamten zunächst seine persönlichen Gegenstände ab, darunter auch sein Mobiltelefon. Dann wurde er auf eine andere Polizeistation verlegt, wo Beamte ihn geschlagen und getreten hätten. Ein paar Stunden später verfrachteten sie ihn auf die Ladefläche eines Lastwagens. Herabhängende Laken verhinderten, dass andere Verkehrsteilnehmer sehen konnten, wer sich in dem Laster befand, erklärt Bakhtyar. Was er zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste: Die Reise ging gen Osten - es war sein anstrengender Fluchtweg in umgekehrter Richtung.
Das bemerkte der junge Afghane, als der Lastwagen hielt und er abstieg: Er stand am Grenzfluss Evros. Und er war nicht allein. Andere Asylbewerber, so berichtet er, standen ebenfalls am Flussufer. Er sah, wie die jungen Männer in Gruppen von zehn auf ein Gummiboot geladen wurden. Der Bootsmann, so erinnert er sich, sprach Griechisch mit den Männern, von den er annahm, sie seien Polizisten, und er sprach Bakhtyars Muttersprache Dari mit den Flüchtlingen. Für Bakhtyar schien klar, dass der Mann den Evros nicht zum ersten Mal auf diese Weise überquerte.
Wegen der Corona-Pandemie ist die Grenze zwischen Griechenland und der Türkei geschlossen. Alle offiziellen Abschiebeverfahren sind ausgesetzt. Als Bakhtyar und die anderen Männer das türkische Ufer erreichten, wartete nichts und niemand auf sie.
Als wir Bakhtyar treffen, wohnt er im Bezirk Esenler in Istanbul, in dem viele Afghanen leben. Die Stadt befindet sich im Lockdown, es ist schwer, sich fortzubewegen. Bakhtyar trägt ein rotes T-Shirt mit der Aufschrift "New York" auf der Vorderseite. Er sieht traurig und verärgert aus. Sein einziges Ziel: So schnell wie möglich nach Griechenland zurückkehren. Immer noch träumt er davon, in Europa zu leben.
DW trifft etliche Push-Back-Opfer
Bakhtyars Geschichte ist kein Einzelfall. Das zeigt eine gemeinsame Recherche von DW, der niederländischen Zeitung "Trouw", der auf investigativen Journalismus spezialisierten gemeinnützigen Organisation Lighthouse Reports und dem unabhängigen investigativen Faktencheck-Netzwerk Bellingcat. Wir konnten Bakhtyar und andere junge Flüchtlinge in der Türkei ausfindig machen und verifizieren, dass sie nach einem Aufenthalt in Griechenland jetzt in der Türkei sind. Sie berichten, dass griechische Behörden sie gegen ihren Willen abgeschoben haben.
Ihre Aussagen haben sie unabhängig voneinander gemacht - und sie ergeben ein klares Muster. Alle Betroffenen sind männlich, unter 30 Jahre alt und allein. Die meisten von ihnen kommen aus Afghanistan, einige aus Pakistan und Nordafrika. Sie wurden entweder im Lager von Diavata festgenommen oder scheinbar zufällig in der näheren Umgebung von der örtlichen Polizei aufgegriffen.
Gemeinsam mit unseren Medienpartnern haben wir mehrere Augenzeugen in Griechenland und der Türkei getroffen und interviewt, griechische Polizeidokumente gesammelt und eine Kette von Beweisen gefunden, vom Flüchtlingslager in Diavata bis zu den Straßen Istanbuls. Mithilfe von Open-Source-Material und zeitgestempelten Social-Media-Posts mit Fotos von Sehenswürdigkeiten in Griechenland, die wir geografisch lokalisieren konnten, ist es gelungen, die Zeugenaussagen grundsätzlich zu verifizieren.
Die DW hat in Istanbul sechs Opfer von Push-Backs getroffen. An anderen Orten in der Türkei haben wir vier weitere ehemalige Asylbewerber ausfindig gemacht, die beweisen konnten, dass sie sich vorher in Griechenland aufgehalten und registriert hatten.
Push-Backs werden Deportationen genannt, die Migranten oder Flüchtlingen keine Möglichkeit geben, einen Asylantrag zu stellen. Damit verstoßen sie gegen die Europäische Menschenrechtskonvention.
Rashid - mitgenommen von Bewaffneten
Einer der Männer, die wir in Istanbul treffen, ist der 24-jährige Rashid. Vor drei Jahren floh er aus seiner Heimat Afghanistan und kam in die Türkei. Er arbeitete als Umzugshelfer in der türkischen Hauptstadt Ankara, bevor er nach Istanbul ging, wo er sich als Schweißer durchschlug. In der Türkei hatte er einen vorübergehenden Schutzstatus, bekam aber keinerlei medizinische Versorgung oder Unterkunft.
"In der Türkei ist das Leben sehr unsicher für junge afghanische Männer. Sie haben keinen Zugang zum Gesundheitssystem oder sozialen Diensten", erklärt Zakira Hekmat, Mitbegründerin der Afghan Refugees Solidarity Association in der Türkei, gegenüber der DW. "Sie sind prekär beschäftigt in unterbezahlten Jobs ohne Vertrag. Es ist moderne Sklaverei." Afghanische Männer in der Türkei arbeiten hauptsächlich in der Schattenwirtschaft und verrichten harte körperliche Arbeit auf dem Bau, im Transportwesen oder in der Textilbranche.
In der Hoffnung auf eine bessere Zukunft verließ Rashid die Türkei. Er erzählt, wie er zu Beginn des Jahres mit einer Gruppe von 20 Personen den Evros überquerte und so nach Griechenland kam. Zwei Monate lang wohnte er in einem Zelt neben dem offiziellen Flüchtlingscamp in Diavata, dem Lager, das 2016 auf dem griechischen Festland bei Thessaloniki errichtet wurde.
Ende März war Rashid auf dem Rückweg vom Freitagsgebet, als die Polizei ihn anhielt. Er beschreibt der DW, dass ein weißer Kleinbus vor ihm hielt. Bewaffnete Männer ohne Uniform seien ausgestiegen und hätten ihm befohlen, ins Auto zu steigen. Rashid wusste nicht, wer diese Männer waren - erst auf der Polizeiwache habe er verstanden, sagt er, dass diese Männer offenbar für die Polizei arbeiteten. Eine Verbindung zwischen den bewaffneten Männern und der Polizei konnte die DW nicht verifizieren.
Rashids griechische Dokumente, ursprünglich einen Monat lang gültig, waren abgelaufen. Während des Corona-Lockdowns, erklärt er, habe er keine Möglichkeit gehabt, die Bleibefrist zu verlängern, da alle zuständigen Büros geschlossen gewesen seien. Auf der Wache habe die Polizei all seine Sachen beschlagnahmt. Rashid musste bei den griechischen Behörden keine Papiere unterschreiben. Er berichtet, dass er später in einem Kleinbus stundenlang quer durchs Land gefahren wurde. Dann habe man ihn am griechischen Ufer des Evros auf ein kleines Boot gezwungen und auf die türkische Seite geschoben.
Es gibt zahlreiche Berichte mutmaßlicher Push-Backs über den Grenzfluss Evros. Die Zeugenaussagen, die die DW mit ihren Partnern gesammelt hat, bestätigen Darstellungen von Menschenrechtsorganisationen wie dem Border Violence Monitoring Network, einer unabhängigen europaweiten Datenbank. Sie weisen darauf hin, dass zwischen dem 31. März und dem 5. Mai mindestens fünf Polizeirazzien im Lager Diavata durchgeführt wurden, die dann zur Abschiebung Dutzender Migranten führten. In fast allen Fällen scheint die Polizei junge, alleinstehende Männer aus Afghanistan, Pakistan und Nordafrika ins Visier genommen zu haben.
Beispiellose Push-Backs aus Lagern und dem Landesinneren
Vassilis Papadopoulos, Präsident des griechischen Flüchtlingsrates und früherer Beamter der griechischen Migrationsbehörden, sieht ein klares Muster: "Polizeiwagen kommen ins Lager und die Beamten führen eine kurze Überprüfung der Personen durch, die noch nicht registriert sind. Sie bitten um ihre Papiere, (...) sie nehmen sie fest und sagen ihnen, dass man sie zu Wache bringen werde, entweder um ihre Papiere zu überprüfen oder ihnen neue Papiere auszustellen. Stattdessen, so die Vorwürfe, werden sie (diese Personen) in die Türkei zurückgebracht."
Papadopoulos betont: "Wichtig und völlig neu an diesen Anschuldigungen - wenn sie denn stimmen - ist, dass es sich um Push-Backs aus dem Landesinnern handelt, sogar aus einem Flüchtlingslager, ohne jedwedes formales Abschiebeverfahren."
Als wir das griechische Ministerium für Migration und Asyl mit den Berichten illegaler Push-Backs konfrontieren, erklärt Vizeminister Giorgos Koumoutsakos gegenüber der DW: "Die Vorwürfe zu Menschenrechtsverletzungen durch griechische Sicherheitskräfte sind erfunden, falsch und nicht bewiesen."
Griechenland schließt die Grenzen
Die Situation an der türkisch-griechischen Grenze ist enorm angespannt, seit die Türkei Ende Februar verkündet hat, aus dem Abkommen mit der Europäischen Union auszusteigen, das die Einreise von Flüchtlingen in die EU weitgehend verhindern sollte. Ankara ermutigte Migranten, sich an die Land- und Seegrenzen Griechenlands zu begeben. Als Reaktion darauf riegelte Athen seine Grenzen ab und setzte im März das Asylrecht aus.
Obgleich das Asylrecht seit April offiziell wieder angewandt wird, liegt die Zahl der Ankünfte im April 2020 um 97 Prozent niedriger als im April 2019, so eine Statistik des Ministeriums für Migration und Asyl. Anfang Mai berichteten griechische Medien, die griechische Küstenwache verfolge eine Politik der "aggressiven Überwachung", um Flüchtlinge an der Einreise zu hindern. Die Regierung hat keine Einzelheiten bekanntgegeben.
"Die bisherigen Maßnahmen", so Vizemigrationsminister Giorgos Koumoutsakos gegenüber der DW, "sind dem Ernst der Situation angemessen und verfolgen legitime Ziele, wie insbesondere den Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung und der öffentlichen Gesundheit."
Notis Mitarakis, der griechische Minister für Migration und Asyl, hat die harte Linie der Regierung verteidigt. Während eines Besuchs auf der griechischen Ägäis-Insel Samos am 28. April sagte er im Staatsfernsehen: "Im April 2020 gab es dank der sehr großen Anstrengungen unserer Sicherheitskräfte keine Neuankünfte in unserem Land."
Am selben Tag berichteten allerdings die Bewohner der Insel, dass sie soeben angekommene Migranten im abgelegenen Dorf Drakei gesehen hätten. Videobeweise, die Lighthouse Reports und Bellingcat analysiert haben, zeigen ein Boot mit 22 Flüchtlingen, das an diesem Tag gegen 7.30 Uhr in einer Bucht von Samos anlegte.
Jouma - abgeschoben von der Insel Samos
Jouma gehörte zu den Flüchtlingen, die den steilen Weg von der abgelegenen Bucht auf Samos zum Dorf hinaufstiegen. Es war das vierte Mal, dass der junge Mann aus der syrischen Hauptstadt Damaskus versuchte, Griechenland zu erreichen. Für ein paar Stunden an diesem Morgen des 28. April schien es, als hätte er es endlich geschafft.
Er gab der DW einen detaillierten Bericht darüber, was passierte, nachdem die Flüchtlinge Samos erreicht hatten. Ein Mädchen aus der Gruppe, das etwas Englisch sprach, so Jouma, bat einen Einheimischen, die griechische Polizei über ihre Ankunft zu informieren. Die Neuankömmlinge nahmen an, dass sie in das Flüchtlingslager auf Samos gebracht würden. Stattdessen nahmen Polizisten sie fest und beschlagnahmten ihre Telefone. Sie brachten die Migranten zu einem Hafen und verteilten sie auf verschiedene Boote, bevor sie sie auf ein schwarz-orangefarbenes Rettungsfloß ohne Motor oder Paddel setzten. Dieses Floß sei dann in türkische Gewässer gezogen worden, berichtet Jouma. Man ließ das Floß auf offener See dümpeln, wobei die Wellen es zurück nach Griechenland trieben. Ein griechisches Schiff drängte es dann in Richtung Türkei.
Das Schlimmste, erinnert sich Jouma, sei ein griechisches Motorboot gewesen, das um sie herum manövrierte und versuchte, sie in türkische Gewässer zu schieben, während die türkische Küstenwache die Situation beobachtete. "Die griechische Küstenwache zog sich zurück, um Platz für ihre türkischen Kollegen zu schaffen, damit sie uns bergen konnten. Aber sie kamen nicht und so ging das die ganze Nacht weiter." Die Gruppe wurde am nächsten Tag mittags von der türkischen Küstenwacht abgeholt.
Die Hafenbehörde auf Samos teilte der DW auf Anfrage mit, dass am 28. April keine Asylsuchenden auf die Insel gekommen seien. Die griechische Zeitung "Efimerida ton Syntakton" hatte bereits am 7. April berichtet, dass orangefarbene Rettungsflöße in Push-Back-Operationen eingesetzt würden.
Griechenland und das EU-Recht
Griechenland - ebenso wie andere EU-Grenzstaaten wie Kroatien - sieht sich seit langem Vorwürfen ausgesetzt, illegale Abschiebungen durchzuführen. Für Dimitris Christopoulos, bis vor kurzem Präsident der Internationalen Föderation für Menschenrechte, wirft die neue Schwere der Vorfälle und die Zahl der Zeugen die Frage auf, inwieweit griechische Behörden die Push-Backs genehmigt haben und wie viel die EU in Brüssel darüber weiß, was an der Grenze geschieht.
"Offensichtlich verstoßen diese Taktiken gegen die griechische Verfassung und das Völkergewohnheitsrecht. Sie scheinen jedoch von der EU toleriert zu werden, da sie dazu dienen, weitere Menschen daran zu hindern, die Ägäis oder den Fluss Evros Richtung Europa zu überqueren", glaubt Christopoulos.
Angesprochen auf diese Taktik, erklärt Giorgos Koumoutsakos, Vizeminister für Migration und Asyl: "Griechenland kommt jetzt und weiterhin seinen Verpflichtungen nach, die sich aus internationalem Recht ergeben, einschließlich aller maßgeblichen Menschenrechtsverträge, die es unterzeichnet hat. Ebenso achtet es seine Verpflichtungen innerhalb der EU-Rechtsnormen bezüglich Grenzen, Migration und Asyl, wie sie in den EU-Verträgen niedergelegt sind."
Jürgen Bast, Professor für Europarecht und an der Universität Gießen und Experte für Asyl- und Flüchtlingsrecht, bezeichnet Push-Backs als eindeutigen Verstoß gegen das Gesetz: "Dies widerspricht allem, was das europäische Recht vorschreibt." Bast bezieht sich dabei zum einen auf das ordnungsgemäße Verfahren eines Asylantrags. Das umfasst unter anderem ein persönliches Gespräch sowie das Recht des Einzelnen, in dem Fluchtland zu bleiben, bis entschieden worden ist, ob die betreffende Person internationalen Schutz benötigt oder nicht.
Zum anderen verstoßen solche Abschiebungen gegen die offizielle Rückkehrrichtlinie, so Bast: "Es beginnt mit einer sogenannten Rückführungsentscheidung, die müssen also schriftlich bekommen, dass sie das Land innerhalb einer bestimmten Frist verlassen müssen. Dann stellen sich Fragen, ob der betreffende Zielort der Abschiebung menschenrechtlich sicher ist." Außerdem müsse das Zielland informiert werden, denn es habe möglicherweise das Recht, abgewiesene Asylbewerber aus Drittländern abzulehnen.
Ein festes Muster
Keiner der jungen Männer, die wir getroffen haben, sagte, er sei darüber informiert worden, dass er Griechenland verlassen müsse. Und keiner berichtet, dass er über seine Rechte informiert worden sei. Stattdessen weisen die Geschichten von Bakhtyar, Jouma, Rashid und den anderen in dieser Recherche befragten Personen darauf hin, dass Push-Backs an der griechisch-türkischen Grenze ein festes Muster geworden sind.
Rashid lebt jetzt in Istanbul und teilt sich eine enge Wohnung mit zehn weiteren jungen Afghanen. Als Migrant ohne Papiere in der Türkei droht ihm die sofortige Abschiebung. Laut offizieller Statistik wurden in den vergangenen zwei Jahren 302.278 Afghanen in der Türkei festgenommen, die höchste Zahl unter irregulären Migranten. Seit 2018 ist es für Afghanen äußerst schwierig geworden, in der Türkei Asyl zu beantragen.
Weil er in der Türkei immer wieder in eine Sackgasse gerät, will Rashid in die Europäische Union zurückkehren: "Ich habe keine Ahnung, was ich hier tun werde. Wir sind nicht schuldig. Ich werde wieder versuchen, die Grenze zu überqueren. Ich muss."