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Ist die Zwangslandung in Belarus beispiellos?

26. Mai 2021

EU und NATO sind empört über die Zwangslandung eines Zivilflugzeugs in Minsk. Russland dagegen verweist auf einen Vorfall 2013 - als die USA Edward Snowden verhaften wollten und ebenfalls ein Flugzeug zwischenlandete.

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Litauen Vilnius Landung entführte Ryanair Machine
Die Ryanair-Maschine, die zum Zwischenstopp in Minsk genötigt worden war, bei der Landung in VilniusBild: Mindaugas Kulbis/AP Photo/picture alliance

Was ist passiert?

Die EU hat verschärfte Sanktionen gegen Belarus angekündigt - unter anderem soll das Land vom europäischen Flugverkehr abgeschnitten werden. Die EU-Staaten sowie das Militärbündnis NATO fordern zudem eine internationale Untersuchung der erzwungenen Landung einer Ryanair-Maschine am Sonntag (23.05.2021), bei der der regimekritische Blogger Roman Protassewitsch und seine Partnerin festgenommen wurden.

Belarus drängte das Passagierflugzeug mit einem Kampfjet zur Zwischenlandung in Minsk, als es sich auf dem Weg von Athen nach Vilnius im belarussischen Luftraum befand - mit dem im litauischen Exil lebenden Protassewitch an Bord. Die belarussischen Behörden behaupten, Grund hierfür sei eine Bombendrohung der radikalislamischen Terrororganisation Hamas gewesen – eine Erklärung, die angesichts der Festnahme Protassewitschs international auf Skepsis stößt.

Gab es bereits einen ähnlichen Fall?

In Bezug auf den Vorfall sprach NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg von einem gefährlichen und inakzeptablen Vorfall sowie von staatlicher Entführung. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bezeichnete den Vorgang auf Twitter als Angriff auf die Demokratie. 

Indessen nannte Russland die westlichen Reaktionen heuchlerisch – und zog den Vergleich zur Zwischenlandung eines Flugzeugs von Evo Morales im Jahr 2013. Bis heute ist der genaue Ablauf aufgrund widersprüchlicher Aussagen der beteiligten Akteure nicht ganz klar.

Jedoch war es anscheinend so, dass eine Maschine des damaligen bolivianischen Präsidenten beim Heimflug von Moskau außerplanmäßig in Österreich landen musste, um zu tanken - weil Frankreich, Spanien und weitere EU-Länder kurzfristig ihren Luftraum für Morales' Maschine gesperrt hatten. 

Der Grund: Man vermutete aufgrund von Hinweisen aus den USA den wegen Geheimnisverrats gesuchten Whistleblower Edward Snowden an Bord. Nachdem der ehemalige US-Geheimdienstmitarbeiter bei einer – wohl von Morales bewilligten - Durchsuchung des Flugzeugs nicht gefunden werden konnte, setzte Boliviens Präsident seine Reise fort. Über den rechtlichen Charakter des Vorfalls wurde auch damals gestritten, die Vereinten Nationen (UN) und die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) kritisierten den Zwangsstopp. Europäische Politiker hielten sich dagegen eher bedeckt.

USA Buch Edward Snowden Permanent Record
Edward Snowden enthüllte 2013 US-amerikanische Spionagepraktiken - er lebt bis heute im russischen ExilBild: Justin Sullivan/Getty Images

Weitere ähnliche Fälle erzwungener Flugstopps sind in der Geschichte der Luftfahrt rar, wie Steven Truxal, Experte für Luftfahrtrecht, erklärt. Entfernt vergleichbar sei höchstens die Sperrung des Luftraums für katarische Flugzeuge durch Ägypten, Bahrain, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate im Jahr 2017.

Hintergrund war die Unterbrechung der diplomatischen Beziehungen zu Katar, weil dem Land vorgeworfen wurde, terroristische Gruppierungen zu unterstützen und die Region zu destabilisieren. Die Blockade wurde erst Anfang 2021 wieder beendet, als die Golfstaaten (und Ägypten) den jahrelangen Konflikt beilegten.

Verstöße gegen Luftfahrtsabkommen?

Grundsätzlich dürfen Staaten laut dem Chicagoer Abkommen über die internationale Zivilluftfahrt Landungen anordnen. Doch diese müssen gerechtfertigt sein und der Vermeidung eines noch größeren Sicherheitsrisikos dienen, als es eine außerplanmäßige Landung darstellt.

"Den Berichten nach soll ja ein Militärjet zum Flugzeug aufgeschossen sein. So etwas ist immer riskant, denn man hat zwei Flugzeuge, die sehr nahe beieinander fliegen und miteinander kommunizieren", führt Truxal aus, der Professor für Luft- und Raumfahrtgesetz an der Universität Leiden in den Niederlanden ist.

Belarus könnte somit - falls sich die Bombendrohung wirklich nur als Vorwand herausstellt, um an Protassewitsch zu kommen - gegen das Chicagoer Abkommen verstoßen haben. Rechtlich relevant könnte laut Truxal zudem das Montreal-Abkommen zur Bekämpfung rechtswidriger Handlungen gegen die Sicherheit der Zivilluftfahrt sein. Diesem Vertrag ist Belarus bereits 1971 beigetreten - allerdings unter dem Vorbehalt, sich nicht an Artikel 14 gebunden zu sehen, der vorsieht, Streitigkeiten zwischen Vertragsstaaten gegebenenfalls vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag auszutragen.

Belarus Minsk Prozess Roman Protasevich 2017
Der eigentlich im Exil lebende Roman Protassewitsch ist nun in Belarus in Haft (Archivbild)Bild: REUTERS

Der Stopp in Wien von Evo Morales' Flugzeug 2013 ist laut dem Experten rechtlich anders gelagert "in dem Sinne, dass es keine Bedrohung für die Sicherheit des Fluges gab, weder eine erfundene noch eine echte". Die Maschine sei seines Wissens nach in Wien zwischengelandet, um Treibstoff zu tanken, weil sie seitens einiger europäischer Länder keine Freigabe erhielt, über deren Staatsgebiet zu fliegen. "Das ist ein ziemlicher Unterschied zur Landung eines Flugzeugs in einer Notfallsituation wegen einer angeblichen Bombendrohung."

Frankreich, Spanien & Co hätten auch nicht gegen die Chicagoer Konvention verstoßen, indem sie ihren Luftraum für Morales' Maschine sperrten, meint Truxal, wenn es sich - und das hat es laut den damaligen Medienberichten - um eine bolivianische Regierungsmaschine handelte. Denn Staatsflugzeuge werden von der Chicago-Konvention nicht abgedeckt und müssen immer um Freigabe bitten, um über das Gebiet eines anderen Landes zu fliegen.

Misst die EU mit zweierlei Maß?

Die Zwangslandung der Ryanair-Maschine in Belarus ist rechtlich nur bedingt mit der Zwischenlandung des Morales-Flugzeugs 2013 in Wien vergleichbar. Dennoch könnte es in beiden Fällen zu Verstößen gegen Abkommen gekommen sein - und die aktuelle Empörung im Westen erscheint ungleich größer als damals.

Brüssel EU Gipfel Treffen Außenpolitik
Beim EU-Gipfel war der Zwangsstopp der Ryanair-Maschine ein wichtiges ThemaBild: Yves Herman/AP Pictures/picture alliance

Auch Deutschland sah bezüglich des Vorfalls mit dem bolivianischen Präsidenten anscheinend keinen Klärungsbedarf, wie die Antwort des damaligen Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes, Harald Braun, auf die Anfrage einer Bundestags-Abgeordneten nahelegt: "Die Verweigerung des Überflugs für den bolivianischen Präsidenten Evo Morales durch einige europäische Staaten Anfang Juli 2013 war weder Gegenstand von Gesprächen der Bundesregierung mit der US-amerikanischen Regierung noch Thema bei Kontakten mit den betreffenden europäischen Staaten."

Die Unterschiedlichkeit der europäischen Reaktionen hängt zum einen sicherlich mit dem jeweiligen geografischen Kontext des Geschehens zusammen - immerhin handelte es sich in Belarus um das Flugzeug einer irischen Airline, das mit vielen europäischen Passagieren an Bord von einem Schengenland zum anderen unterwegs war. 

Zum anderen gab es dieses Mal in der Praxis größere Nachwirkungen, weil es ja tatsächlich zu einer Festnahme kam - während Edward Snowden nicht in Morales' Flugzeug gefunden wurde. Was aber, wenn er darin gewesen wäre? Dann wäre der Skandal sehr wahrscheinlich viel größer gewesen und die EU-Staaten gezwungen, sich eindeutiger zu positionieren. 

Dies ist eine aktualisierte Version des Artikels.

DW Fact Checking-Team | Ines Eisele
Ines Eisele Faktencheckerin, Redakteurin und AutorinInesEis