EU will neue Sanktionen gegen Belarus
25. Mai 2021Alle Mobiltelefone abgeben oder zumindest ausschalten! Das war die Anweisung an die Staats- und Regierungschefinnen und -chefs der EU und ihre engsten Mitarbeiter im abhörsicheren Sitzungssaal des Europa-Gebäudes in Brüssel. Während der Beratungen zu Belarus sollte nichts nach außen dringen, kein Tweet und keine SMS wie das sonst schon üblich ist. Diese dringende Bitte des Vorsitzenden der Gipfelrunde, Charles Michel, sollte wohl die Dramatik des Augenblicks und die Bedeutung der Beschlüsse unterstreichen. Erst am Ende der geheimen Beratungen wurde ein gemeinsamer Text der Europäischen Union veröffentlicht, um völlig geschlossen auf die erzwungene Landung eines irischen Verkehrsflugzeugs in Minsk am Sonntag und die Verhaftung eines Regimegegners und seiner Partnerin zu reagieren.
EU fordert Entlassung von Inhaftierten
Beim Abendessen billigten die Chefinnen und Chefs eine Liste mit diversen Optionen für Sanktionen, die jetzt von der EU-Kommission und dem Ministerrat der Mitgliedsländer noch ausgearbeitet und formal in Kraft gesetzt werden müssen. Außerdem fordert die EU die sofortige Freilassung des inhaftierten Journalisten Roman Protassewitsch und seiner russischen Freundin Sofia Sapega. Im Nachrichtendienst Telegram tauchte ein Video auf, in dem Protassewitsch erklärte, er sei in Untersuchungshaft. Wie das Video entstanden ist und ob es freiwillig aufgenommen wurde, ist unklar. Ähnliche Appelle der EU zu Freilassungen nach gewaltsamen Vorgehen gegen Demonstranten in Belarus in den vergangenen Monaten verhallten jedoch ohne Folgen.
Scharfe Worte
Die EU verurteilt - wie es heißt - "auf das Schärfste" die erzwungene Landung der Ryanair-Maschine, die auf dem Weg von Athen nach Vilnius war. Die Sicherheit der zivilen Luftfahrt sei gefährdet worden. Die Internationale Luftfahrtorganisation müsse diesen "beispiellosen und inakzeptablen Vorgang" untersuchen, heißt es in dem Gipfelpapier. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte von einer "Entführung" und "himmelschreiendem Unrecht" gesprochen. Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki warf der Führung in Belarus "Staatsterrorismus" vor. Bundeskanzlerin Angela Merkel nannte die Begründungen aus der weißrussischen Hauptstadt Minsk für die durch ein Kampfflugzeug erzwungene Landung "vollkommen unglaubwürdig".
Die belarussischen Behörden hatten behauptet, es habe eine Bombendrohung gegen das Flugzeug vorgelegen, als es den belarussischen Luftraum durchquerte. Nach der Landung wurde allerdings keine Bombe gefunden, sondern die beiden Personen, der belarussische Oppositionelle und seine Freundin, wurden festgesetzt. "Die Zeit für Rhetorik ist jetzt vorbei", sagte der litauische Präsident Gitanas Nauseda zu Beginn des Treffens in Brüssel.
Landeverbot für belarussische Airline
Die EU will nun der belarussischen Fluglinie "Belavia" verbieten, in einem der 27 Mitgliedsstaaten zu starten oder zu landen. "Belavia" fliegt unter anderem Amsterdam, Barcelona, Stockholm und Brüssel an und bietet Verbindungen nicht nur nach Minsk, sondern auch nach Zentralasien und Russland. Internationale Fluglinien werden aufgefordert, den belarussischen Luftraum nicht mehr zu überfliegen. Belarus würden dadurch die fälligen Gebühren für Überflüge entgehen. Die Fluglinien müssten Umwege und Mehrkosten in Kauf nehmen. Die Lufthansa kündigte am Abend bereits an, den belarussischen Luftraum vorerst zu meiden.
Erweiterung der Sanktionen wird geprüft
Die EU will weitere einzelne Personen aus der Führungselite rund um Diktator Alexander Lukaschenko mit Einreise-Verboten und dem Einfrieren von Vermögen in der EU bestrafen. Rund 80 Personen stehen bereits auf dieser Liste, weil sie für die Unterdrückung der demokratischen Opposition in Belarus verantwortlich gemacht werden. Auch Lukaschenko persönlich ist bereits von Sanktionen betroffen.
Neu ist, dass die EU auch "gezielte" Sanktionen gegen ganze Wirtschaftszweige prüfen will. Die EU ist der zweitgrößte Handelspartner von Belarus. Das Handelsvolumen ist mit 11 Milliarden Euro für Güter jährlich relativ klein. Belarus exportiert hauptsächlich Holz, Baustoffe und Chemikalien nach Europa. Es importiert Ausrüstung und Maschinen, vor allem aus Deutschland. Die EU müsse natürlich immer prüfen, welche Wirkungen mögliche Sanktionen haben könnten und wen sie genau treffen würden: die Macht-Elite des Landes oder die breite Bevölkerung, sagte ein EU-Diplomat vor den Beratungen.
Die USA haben bereits breitere Wirtschaftssanktionen gegen Belarus beschlossen. Davor schreckte die EU bislang zurück. Auch die "nukleare Option", die darin besteht, Belarus vom internationalen Bankensystem Swift abzukoppeln, wurde in dem Gipfel-Papier nicht erwähnt. Mit dieser Sanktion etwa wurde der Iran von den USA belegt. Belarus, das keinen Zugang zum Meer hat, darf offenbar auch weiter den Hafen von Kleipeda in Litauen für seine Exporte nutzen. Die EU bleibt Belarus auch durch einzelne Projekte wie den Bau einer Autobahn, Studentenaustausch oder Visaerleichterungen verbunden. Neues Geld für Investitionen aus Brüssel soll es aber zunächst nicht geben. "Ein Wirtschaftsprogramm im Wert von drei Milliarden Euro wird so lange zurückgehalten, bis Belarus sich an demokratische Normen hält", sagte Kommissionspräsidentin von der Leyen.
Zölle und Quoten zum Beispiel für Textilien gibt es mit Belarus schon lange, weil das Land zu einer Zollunion mit Russland gehört. Belarus, das der Welthandelsorganisation (WTO) nicht angehört, genießt schon seit 2007 nicht mehr den Status eines "bevorzugten Landes" nach den Kriterien der WTO, den die EU partnerschaftlich verbundenen Staaten einräumt. "An der Zollschraube kann man also auch nicht viel drehen", meinte dazu ein EU-Diplomat in Brüssel.
Russland im Fokus
Der wichtigste Handelspartner und politische Verbündete des belarussischen Diktators ist der russische Präsident Wladimir Putin. Lukaschenko mache eigentlich nichts ohne Zustimmung aus dem Kreml, ist die allgemeine Einschätzung bei den Staats- und Regierungschefs in Brüssel. Deshalb sei es jetzt doppelt wichtig, gegenüber Russland eine klare Strategie zu definieren. Die Beziehungen befinden sich wegen des Konflikts um die Ukraine, der Annexion der Krim und der Giftanschläge auf russische Oppositionelle auf einem absoluten Tiefpunkt, wie die Außenminister der EU wiederholt festgestellt hatten. Der russische Außenminister Sergej Lawrow will die EU künftig ignorieren. Die Staats- und Regierungschefs beschlossen erneut, sich von einem Fünf-Punkte-Plan zur Verbesserung der Beziehungen leiten zu lassen. Diese fünf Prinzipien liegen seit 2016 auf dem Tisch. Umgesetzt werden konnten sie bislang nicht.
Es geht um 1. volle Umsetzung des Minsker Friedensprozesses im Ukraine-Konflikt, 2. Stärkung der EU gegenüber Bedrohungen aus Russland militärisch oder im Internet, 3. engere Beziehungen zu den Nachbarstaaten Russlands, 4. selektive Zusammenarbeit in bestimmten Sektoren wie Energieexporten, Terrorbekämpfung oder Raumfahrt und 5. mehr Kontakt der zivilen Gesellschaften in der EU und in Russland.
Ein wenig Hoffnung setzt man auch auf ein mögliches Gipfeltreffen des neuen amerikanischen Präsidenten Joe Biden mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Dieses Treffen, an dem im Hintergrund wohl gearbeitet wird, das aber noch nicht bestätigt ist, könnte vielleicht zu einem Tauwetter zwischen Russland und dem Westen führen.