EZB-Chefin will "jeden Stein umdrehen"
12. Dezember 2019Christine Lagarde begann ihre erste Pressekonferenz nach einer Ratssitzung der Europäischen Zentralbank (EZB) wie alle ihre Vorgänger: mit dem Vorlesen des "einleitenden Statements". So heißt die Erklärung, in der die Ratsbeschlüsse zur Geldpolitik dargestellt werden - im klassischen, oft kryptischen Jargon der Zentralbanker.
Wer genau hinschaute, konnte allenfalls den Anflug eines Lächelns erkennen, als Lagarde den ersten der vielen Textbausteine vortrug, den ihr Vorgänger Mario Draghi acht Jahre lang so häufig ausgesprochen hatte, dass ihn regelmäßige Beobachter der EZB im Schlaf mitsingen können: jene Stelle, in der von dem Inflationsziel "in der Nähe, aber unterhalb von zwei Prozent" die Rede ist.
Die EZB - wie die meisten anderen großen Zentralbanken - peilt das Zwei-Prozent-Ziel vor allem deshalb an, weil eine dauerhaft niedrigere Inflation als Risiko für die Konjunktur gilt: Unternehmen und Verbraucher könnten dann Investitionen aufschieben - in der Hoffnung, dass es bald noch billiger wird.
Es geht locker weiter
Und so trug Lagarde vor, dass die EZB bis auf weiteres an ihrer ultralockeren Geldpolitik festhält. Der Leitzins im Euroraum bleibt auf dem Rekordtief von null Prozent. Banken müssen weiter Negativzinsen von 0,5 Prozent zahlen, wenn sie Gelder bei der Zentralbank parken. Außerdem kauft die EZB seit November für monatlich 20 Milliarden Euro Anleihen von Staaten und Unternehmen auf - all das mit dem Ziel, die niedrige Inflation näher an die Zielmarke zu bringen.
Die Inflation macht derweil keine Anstalten, sich diesem Ziel zu nähern. Für das laufende Jahr erwartet die EZB einen Wert von 1,2 Prozent, im kommenden Jahr sogar nur 1,1 Prozent. Erst 2022 wird mit 1,6 Prozen wieder ein Niveau erreicht, bei dem das Zwei-Prozent-Ziel zumindest in Sichtweite ist.
Nach gut zehn Minuten war der Standardtext verlesen, und im Gegensatz zu ihrem Vorgänger wirkte Lagarde sichtlich erleichtert, wieder "normal" sprechen zu können (wobei sie natürlich weiß, dass an den Finanzmärkten jedes Wort einer Zentralbankchefin auf die Goldwaage gelegt wird).
Lagardes eigener Stil
An die versammelten Journalisten gewandt sagte Lagarde, sie sollten Unterschiede in der Art zu kommunizieren nicht überbewerten. "Ich habe meinen eigenen Stil, ich werde ich selbst sein und deshalb wahrscheinlich auch anders."
Und dann sprach Lagarde über das, was ihre Amtszeit tatsächlich von der Draghis unterscheiden wird: Denn zum ersten Mal seit 2003 wird die EZB ihre Strategie überprüfen. Nach 16 Jahren der gleichen Strategie sei es angemessen, jedes Instrument auf seine Angemessenheit zu überprüfen. Dabei bleibe das Mandat der Zentralbank, nämlich für Preisstabilität zu sorgen, unverändert. Überprüft werden dagegen die Mittel, mit denen die EZB versucht ihr Mandat zu erfüllen, und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft.
"Dabei werden auch die großen Veränderungen der vergangenen 16 Jahre angesprochen", sagte Lagarde. "Dazu gehören die massiven technologischen Umwälzungen, die Herausforderungen durch den Klimawandel und die Auswirkungen der Ungleichheit, die in unseren Volkswirtschaften zunehmen."
Eine neue Strategie
Lagarde nannte die Überprüfung "ein bisschen überfällig". Sie solle im Januar 2020 beginnen und vor Jahresende abgeschlossen sein. Vorgesehen sind dafür auch Gespäche mit Politikern, Wissenschaftlern und Vertretern der Zivilgesellschaft. "Wir werden wir jeden Stein umdrehen", so Lagarde.
Ausdrücklich lobte sie die Pläne für einen "Green Deal", mit der die neue EU-Kommission die Europäische Union bis 2050 klimaneutral machen will. Lagarde nannte Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen "meine Freundin" und sagte, sie sei sehr angetan vom Anspruch ihres Vorhabens.
Sie hoffe, alle europäische Institutionen könnten hier im Rahmen ihrer Mandate einen Beitrag leisten. Das gelte auch für die EZB. "Bei der Überprüfung unserer Strategie schauen wir daher auch auf den Kampf gegen den Klimawandel, den die EU-Kommission und hoffentlich auch andere Institutionen aufnehmen. Wir wollen sehen, wo und wie wir dabei mitwirken können", so Lagarde.
Das Wirtschaftswachstum in den Eurozone bleibt auch im kommenden Jahr "schwach", sagte Lagarde. Die EZB erwartet dann nur 1,1 Prozent Wachstum, ein Zehntelpunk weniger als im laufenden Jahr. Erst ab 2021 soll es dann leicht auf 1,4 Prozent wachsen.
Lagarde bemühte sich aber, die Dinge positiv zu sehen. Es gebe Anzeichen für eine langsame Erholung der europäischen Wirtschaft. Und die geopolitischen Risiken, allen voran Handelskriege und Protektionismus, seien zwar noch vorhanden, aber etwas kleiner geworden, so die EZB-Chefin.