Christine Lagarde: Mehr als Draghi 2.0?
1. November 2019Die Erwartungen an die Geldpolitik der EZB unter ihrer neuen Chefin Christine Lagarde sind in Deutschland nicht gerade hoch: Niemand erwartet ernsthaft eine Abkehr von Mario Draghis Nullzinspolitik, auch der Ökonom Jörg Krämer nicht: "Die Französin hat Draghis Geldpolitik stets unterstützt und wird als ehemalige Finanzministerin viel Verständnis für die Wünsche ihrer ehemaligen Kollegen aus dem hoch verschuldeten Süden der Währungsunion aufbringen", lautet die Analyse des Chefvolkswirts der Commerzbank. "Wer nun unter Draghis Nachfolgerin Christine Lagarde auf einen Kurswechsel hofft, dürfte enttäuscht werden", unterstreicht Krämer.
Dass sie die Politik der EZB besser kommunizieren will und auch die negativen Folgen der Nullzinspolitik stärker in ihre Entscheidungen einbeziehen will, hat die 63-Jährige bereits mehrfach angekündigt. Dazu gehört auch, dass sie stärker auf die wachsende Opposition im EZB-Rat gegen die expansive Geldpolitik der EZB zugehen muss.
Bereits als IWF-Chefin vertraute die Juristin auf die Expertise von Ökonomen und vertrat ihre Linie im Tandem mit Chefvolkswirt Maurice Obstfeld oder Kommunikationschef Gerry Rice nach außen.
Geniale Kommunikatorin
Der finnische Notenbankchef Olli Rehn, der ebenfalls als möglicher Draghi-Nachfolger gehandelt wurde, ist davon überzeugt, dass ihr im Frankfurter EZB-Turm diese Erfahrungen als Chefin des riesigen IWF mit 189 Mitgliedsstaaten zu Gute kommen werden: "Sie hat erstklassige Kommunikationsfähigkeiten bewiesen, die im Umgang mit Finanzmärkten, politischen Entscheidungsträgern und auch mit der Zivilgesellschaft wichtig sind." Auch sein Kollege im EZB-Rat, der Franzose Benoit Coeuré, schätzt ihre Erfahrungen als französische Finanzministerin und IWF-Chefin: "Sie weiß, wie die globale Wirtschaft funktioniert. Sie weiß, wie Europa funktioniert. Und sie weiß, wie man mit den Finanzmärkten kommuniziert." Selbst von finanzpolitischen Widersachern wie Ex-Finanzminister Wolfgang Schäuble sind keine negativen Worte über Lagarde zu hören. Sie verstehe es eben, auch mit schwierigen Verhandlungspartnern zu einer Lösung zu kommen, ist immer wieder aus ihrem Umfeld zu hören.
Schwieriger Umgang mit Draghis Erbe
Bisher hat sie noch nicht darüber gesprochen, was sie anders machen will als Draghi. Aber Christine Lagarde dürfte klar sein, dass die EZB im Falle einer neuen existenziellen Krise der Gemeinschaftswährung dringend einen Plan B in der Schublade haben muss.
Thomas Mayer ist einer der namhaftesten deutschen Ökonomen. Zu seinen beruflichen Stationen gehören der IWF in Washington, die Investmentbank Goldman Sachs in London und die Deutsche Bank in Frankfurt, wo er Chefvolkswirt war. Heute ist er für die Vermögensverwaltung Flossbach von Storch in Köln tätig, wo er das firmeneigene Research Institute leitet. Wenn Mayer der neuen EZB-Chefin etwas mit auf den Weg geben könnte, dann vor allem den Rat, sich gut auf die nächste große Krise des Euro vorzubereiten. "Sie sollte Alternativen zur gegenwärtigen Politik durchspielen und sich dafür in den zuständigen Kreisen Zustimmung suchen. Und wenn es dann tatsächlich an die Bruchstelle des Euros kommt, sollte sie bereit sein, die richtige Lösung implementieren zu können", betont Mayer im Interview mit der DW.
Weil Lagarde als ehemalige französische Finanzministerin aus der Politik kommt, sieht auch Mayer die Gefahr, dass bei einer neuen Krise des Euro - ausgelöst etwa durch schwere Finanzturbulenzen in Italien - nicht die richtigen Lösungen ergriffen werden. "Andererseits ist Frau Lagarde aber auch extrem lernfähig, was sie im Verlauf ihrer Karriere gezeigt hat. Man kann hoffen, dass sie die Herausforderung sieht, dass sie sich darauf einstellt und dass sie tragfähige und nachhaltige Lösungen vorbereitet."
Raus aus der Sackgasse
Die Bewältigung von Krisen durch eine extrem expansive Geldpolitik mit Niedrig- und Minuszinsen sei wie eine Reise ins Ungewisse, sagen Kritiker. Wie die großen Entdecker vor rund 500 Jahren seien die Notenbanker unserer Zeit in "unchartered waters", in nicht bekannten, auf keiner Karte verzeichneten Meeren unterwegs. Vor allem die Auswirkungen der andauernden Niedrig- und Minuszinsen verbunden mit dem Ankauf von Anleihen im Wert von hunderten Milliarden Euro treiben vielen Volkswirten den Schweiß auf die Stirn. Deshalb ist es für Thomas Mayer extrem wichtig, dass sich die Entscheidungsträger an der Spitze der EZB über Alternativen Gedanken machen. "Wir haben - durch die Ereignisse getrieben - Neuland betreten. Man hat Dinge durchgeführt, die vorher undenkbar waren. Deshalb sollte man jetzt die künftigen Dinge durchdenken und nicht das Undenkbare tun, wie man es in der Krise getan hat." Ein Aspekt des Bildes der "unchartered waters" sei allerdings schief, so Mayer: "Die Seefahrer der frühen Neuzeit, die in nicht kartographierte Gebiete vorgestoßen sind, haben Ziele erreicht. Kolumbus hat Amerika entdeckt. Was die EZB meines Erachtens gemacht hat, ist, dass sie eine Sackgasse hinunter gefahren ist und jetzt so langsam an das Ende dieser Gasse gekommen ist und umkehren muss, um einen neuen Abzweig zu finden."
Druck auf EZB wächst
Dass der Druck auf den Kurs der EZB unter Christine Lagarde nachlässt, ist eher unwahrscheinlich. Im Gegenteil: Anfang Oktober veröffentlichte eine Gruppe früherer europäischer Notenbanker ein Memorandum, indem sie schreiben, dass sie "als ehemalige Zentralbanker und europäische Bürger den anhaltenden Krisenmodus der EZB mit wachsender Sorge verfolgen". Zu den Unterzeichnern gehören nicht nur bekannte deutsche Namen wie Otmar Issing, Helmut Schlesinger und Jürgen Stark, sondern auch der frühere französische Notenbanker Herve Hannoun.
Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) ging jetzt sogar so weit, die deutschen Versicherer zum Protest gegen die niedrigen Leitzinsen in der Eurozone aufzurufen. "Es ist ein Punkt erreicht, an dem die Marktteilnehmer sehr deutlich machen sollten, wie stark die niedrigen Zinsen mittlerweile ihr Geschäftsmodell und damit ihren Beitrag zur kapitalgedeckten Altersversorgung gefährden", sagte BaFin-Exekutivdirektor Frank Grund Ende Oktober auf einer Tagung der Aufsichtsbehörde in Bonn. Die jüngste Senkung der negativen Einlagezinsen durch die Europäische Zentralbank habe den Druck auf die Branche noch einmal erhöht. "Bisher habe ich die Betroffenen immer angehalten, nicht zu lamentieren, sondern die Realität zu akzeptieren", sagte Grund. Das hätten die Lebensversicherer auch getan, etwa durch eine Senkung der Ausschüttungen an die Versicherten.
Die Aufseher überwachen mittlerweile eine ganze Reihe von Lebensversicherern und Pensionskassen, die durch die anhaltende Minuszinspolitik der EZB mit dem Rücken zur Wand stehen.
Außerdem haben EZB-Kritiker beim Bundesverfassungsgericht einen Eilantrag eingereicht, um zu verhindern, dass die EZB ab dem 1. November wieder Anleihen im Wert von 20 Milliarden Euro pro Monat aufkauft. Es war die letzte Entscheidung des scheidenden EZB-Chefs Draghi, die er gegen massiven Widerstand im EZB-Rat durchgeboxt hatte. Mit den Folgen muss dann seine Nachfolgerin klarkommen.