EU will Belarus schärfer sanktionieren
27. Mai 2021"Wie kann man am größten Druck auf die belarussische Führung rund um Machthaber Alexander Lukaschenko ausüben?" Das ist die Frage, die die 27 Außenministerinnen und Außenminister der Europäischen Union in Lissabon intensiv beraten haben. Eine konkrete, rechtlich verbindliche Antwort, welche Sanktionen verhängt werden sollen, gibt es noch nicht. Dazu müssen erst die zuständigen Ausschüsse und Gremien in Brüssel die Feinarbeit leisten, denn Sanktionen und ihre Ziele müssen gerichtsfest begründet werden. Schließlich kann im Rechtssystem der EU jeder, der mit Sanktionen belegt wird, dagegen vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg klagen. Außerdem müssen die Folgen von möglichen Strafmaßnahmen gründlich abgewogen werden.
Die Stoßrichtung wurde in Lissabon aber klar. Die lukrative Kalisalz-Industrie, petrochemische Betriebe und der Finanzsektor in Belarus sollen durch neue Sanktionen getroffen werden. Belarus ist der viertgrößte Kali-Produzent der Welt, nach Kanada, China und Russland. Die Sanktionen gelten also nicht wie bisher einzelnen Personen, sie sollen zum ersten Mal ganze Bereiche der belarussischen Wirtschaft beschneiden. Bisher wurden für die Inhaftierungen von Oppositionellen oder Demonstranten nur die politisch Verantwortlichen mit EU-Einreiseverboten oder dem Einfrieren möglicher Vermögen in der EU bestraft.
Die jüngsten Vorfälle - insbesondere die erzwungene Landung eines Passagierflugzeugs vergangene Woche - zeigen jedoch, dass "gezielte Sanktionen", auch gegen Präsident Alexander Lukaschenko persönlich, bislang ohne Wirkung geblieben sind. Der EU-Gipfel am Montagabend hatte darum beschlossen, stärkere Geschütze aufzufahren. Daran wird jetzt gearbeitet.
Lange Spirale möglich
Der deutsche Außenminister Heiko Maas sagte in Lissabon, die EU werde beobachten, welche Wirkung ihre Sanktionen entfalteten und ob Lukaschenko nachgebe. "Ist das nicht der Fall, dann muss man davon ausgehen, dass dies erst der Beginn einer großen und langen Sanktionsspirale sein wird." Es gehe bei den Überlegungen der EU nicht mehr nur um die erzwungene Landung in Minsk und die Verhaftung zweier Oppositioneller, die an Bord waren. Es gehe auch um die Menschen, die in Belarus nach Protesten gegen die Regierung in den letzten Monaten inhaftiert wurden. "Das erste Signal, dass wir erwarten ist, dass die über 400 politische Gefangene, die es gibt, freigelassen werden. So lange das nicht der Fall ist, kann es bei der EU auch kein Nachlassen geben, wenn es darum geht, Sanktionen auf den Weg zu bringen."
"Nicht die Menschen treffen"
Andere Minister wie Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg blieben eher skeptisch, ob breitere Wirtschaftssanktionen die erwünschte Wirkung entfalten oder gar kontraproduktiv sein könnten: "Wir müssen ganz klar als Europäische Union die roten Linien aufzeigen, aber wir müssen auch aufpassen, dass wir nicht die Menschen treffen in Belarus. Das ist nicht unser Ziel."
Schallenberg meinte, Lukaschenko verstärke den "Würgegriff" an der eigenen Bevölkerung. Vorkommnisse wie die vermeintliche Flugzeugentführung durch einen Staat habe es nicht einmal im Kalten Krieg gegeben.
Schallenberg deutete auch die Sorge an, Belarus noch weiter in die Arme seines engsten Partners Russland zu treiben. In den letzten Jahren sei es der EU gelungen, dabei die Balance zu halten. Das sei strategisch auch sinnvoll, so der österreichische Außenminister: "Wir wollen ja letzten Endes Weißrussland näher zu uns führen und nicht wegstoßen. Was bringt es der belarussischen Bevölkerung, wenn sich europäische Unternehmen zurückziehen und diese dann von russischen oder türkischen Unternehmen ersetzt werden, die keine Standards einhalten?"
Die im Exil in Litauen lebende belarussische Oppositionsführerin Svetlana Tichanowskaja äußerte Verständnis für die Sperrung des EU-Luftraums für belarussische Airlines. Sie forderte aber, die Landgrenzen zu Belarus zu öffnen. "Dem Regime darf nicht erlaubt werden, 9 Millionen Einwohner zu Gefangenen im eigenen Land zu machen", sagte Tichanowskaja.
Russland-Strategie gesucht
Die Chefdiplomatinnen und -diplomaten der EU-Staaten waren sich unter dem Vorsitz des "Hohen Beauftragten für Außenpolitik der EU", Josep Borrell, einig, dass der Schlüssel zur weiteren Entwicklung im Kreml liege. Zwar habe habe man keine direkten Erkenntnisse, ob der russische Präsident Wladimir Putin bei dem "Akt der Luftpiraterie" seine Finger im Spiel hatte, aber es sei klar, dass Minsk nicht ohne Moskau handle. Man müsse mit Russland sprechen, so die allgemeine Einschätzung, da es nicht nur in Belarus ein Rolle spiele, sondern auch in allen aktuellen oder "eingefrorenen " Konflikten in der östlichen europäischen Nachbarschaft. Damit meint die EU die Besetzung der Krim durch Russland, die russische Beteiligung am Bürgerkrieg in der Ostukraine sowie territoriale Konflikte in Georgien, Armenien und Moldau.
Welche Druckmittel die EU gegenüber Moskau anwenden will, die über die bereits verhängten "gezielten Sanktionen" gegen einzelne Verantwortliche und Unternehmen hinausgehen, blieb in Lissabon unklar. Gegenüber Russland haben die EU-Mitgliedsstaaten unterschiedliche Wirtschaftsinteressen. Frankreich will ein spezielles strategisches Verhältnis zu Präsident Putin aufbauen. Deutsche Diplomaten weisen wegen der Auseinandersetzungen um das umstrittene russisch-deutsche Pipeline-Projekt Nord Stream 2 immer wieder darauf hin, dass man Politik und Wirtschaft trennen müsse.
"EU bleibt unter ihren Möglichkeiten"
Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte beim Gipfeltreffen der EU am Dienstag noch einmal darauf hingewiesen, dass man im Energiegeschäft mit Gas und Erdöl als Kunde und als Lieferant von einander abhängig sei. Man sei sich einig, so die Kanzlerin am Dienstag, "dass wir in der Summe viele Möglichkeiten haben, gegenüber Russland aufzutreten, aber dass wir unter unseren Möglichkeiten bleiben, weil es doch sehr oft unterschiedliche bilaterale Reaktionen einzelner Mitgliedsstaaten gibt." Diese Heterogenität schwäche die Europäische Union. "Wenn wir von europäischer Souveränität sprechen, dann brauchen wir eben auch einen gemeinsamen Auftritt." An genau diesem wollten die EU-Außenminister nach ihrem informellen Treffen in Lissabon weiter arbeiten.
Gabrielius Landsbergis, der Außenministers Litauens, sagte während der Tagung, dass er eine Annexion von Belarus durch Russland befürchte. "Das ist wie bei der Krim, nur größer", mutmaßte Landsbergis, dessen Land an beide Länder grenzt. Die Hauptstadt Vilnius war das eigentliche Ziel des nach Minsk umgeleiteten Ryanair-Fluges. Die EU müsse sich auf diese Möglichkeit vorbereiten, forderte Landsbergis. Der deutsche Außenminister teilt diese Befürchtung offenbar nicht. "Das kann man so sehen, muss man aber nicht", sagte Heiko Maas.