Beim Abendessen Belarus und Russland
24. Mai 2021Kaum hat der Waffenstillstand zwischen Israel und der Palästinenserführung den außenpolitischen Druck auf die EU verringert, zwingt der Fall der erzwungenen Flugzeuglandung in Belarus die europäischen Regierungschefs, über neue Sanktionen zu beraten. Die Regierung Lukaschenko hatte am Sonntag einen Ryanair-Flug nach Vilnius zur Landung in Minsk gezwungen, um den an Bord befindlichen politischen Aktivisten Roman Protassewitsch zu verhaften.
"Ein noch nie dagewesener Vorgang", schrieb der litauische Präsident Gitanas Nauseda empört auf Twitter und verlangte umgehende Reaktionen der EU und der Nato. Der polnische Ministerpräsident sprach von einem "Akt von Staatsterrorismus" und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte: "Jede Verletzung der internationalen Flugverkehrsregeln muss Konsequenzen haben."
Scherbenhaufen EU-Außenpolitik
Die Zwangslandung des zivilen Fluges bringt Belarus zurück auf die Tagesordnung der EU. Wegen der gewaltsamen Unterdrückung der Opposition hatten die Europäer für den Juni eine vierte Runde von Sanktionen gegen 50 weitere hohe Offizielle in Belarus vorbereitet. Bislang waren 90 Mitglieder von Präsident Lukaschenkos Regierungsapparat mit Reiseverboten und Kontosperren belegt worden. Dabei waren diese früheren Sanktionen der EU gegen das Regime vielfach als zu lau kritisiert worden. Jetzt müssen die Regierungschefs über härtere Maßnahmen nachdenken.
Im Zusammenhang damit steht die geplante Debatte über das künftige Verhältnis zu Russland. Der jüngste massive Aufmarsch russischer Truppen an der Grenze zur Ukraine oder die Ausweisung von Diplomaten nach dem politischen Zerwürfnis mit Tschechien wegen einer früheren Geheimdienstaktion werden von vielen EU-Ländern als Provokation betrachtet.
Die Debatte beim Abendessen der Chefs an diesem Montag soll eine Orientierung geben, wie heftig man die Türen gegenüber Präsident Wladimir Putin zuschlagen will und inwieweit sich eine strategische Zusammenarbeit überhaupt noch umsetzen lässt. Die EU-Kommission soll noch im Sommer einen Bericht mit einer Bestandsaufnahme der zerrütteten Beziehungen vorlegen. Auf dieser Basis will die EU dann einen Grundsatzbeschluss fassen, um die Frage "Wie weiter mit Moskau?" prinzipiell zu beantworten.
Dabei wächst die Kritik an Ungarn: Die Regierung in Budapest hatte sich zuletzt geweigert, je einem EU-Beschluss zu Hongkong und zu Israel-Palästina zuzustimmen, und damit die anderen 26 Mitgliedsländer blockiert. Ähnliches wird auch in der Russlanddebatte erwartet, so dass Premier Viktor Orban jetzt von einigen seiner Kollegen zu einer kooperativeren Haltung gedrängt wird. Insgesamt seien es schwierige Zeiten für die EU-Außenpolitik, beklagen Diplomaten in Brüssel, und das Wort vom Scherbenhaufen geht um.
Corona-Lage verbessert
EU-Diplomaten sehen die gegenwärtige Corona-Lage "besser als in der Vergangenheit". Jetzt gehe es darum, die Schengen-Zone wieder zu öffnen. Nachdem Europaparlament und Europäischer Rat sich in der vergangenen Woche auf einen EU-weiten Corona-Pass für Geimpfte und Genesene geeinigt hatten, sei es jetzt an den Mitgliedsländern, für eine schnelle Umsetzung zu sorgen. Bislang geht es in unterschiedlichen Tempo und teilweise nur langsam voran.
Vor allem die vom Tourismus abhängigen Südländer drängen auf baldige Lösung, um die Grenzen zunächst innerhalb der EU und später gegenüber Drittstaaten wieder öffnen zu können. Als offene Fragen in der europaweiten Diskussion gelten derzeit mögliche Impfungen für Kinder und die Planung einer 3. Impfrunde für den Herbst, falls sie erforderlich werden sollte.
Der Brexit macht weiter Probleme
Diplomaten betroffener Länder zeigen sich geschockt über die jüngsten Aktionen Großbritanniens bei der Anwendung des Brexit-Abkommens. Der Streit um die Fangbedingungen für französische Fischer im Ärmelkanal wird als "ernst" bezeichnet und das britische Verhalten, wonach zahlreiche Boote aus dem Nachbarland ausgesperrt werden sollten, als inakzeptabel.
Das größere politische Problem sei jedoch der Umgang mit dem Nordirlandprotokoll. Der französische Europaminister Clément Beaune verlangte bei seinem jüngsten Besuch in Irland, Großbritannien müsse seine Verpflichtungen erfüllen: "Das bedeutet nicht, dass es keine Flexibilität geben kann, um Reibungen zu vermeiden. Ich hoffe, wir sehen nur eine Anpassungsperiode und nicht den generellen Willen, die EU zu provozieren."
Irland Außenminister Simon Coveney hofft auf eine baldige Klärung der offenen Fragen, denn "einseitige Handlungen der britischen Regierung wären ein Desaster". Den Frieden in Nordirland zu erhalten, ohne eine Hintertür in den EU-Binnenmarkt zu eröffnen, war eine der heikelsten Fragen der Brexit-Verhandlungen. Die EU-Regierungen wollen jetzt eine Botschaft der "Einigkeit" an London senden, weil viele die bisherige Nichteinhaltung des Protokolls mit seinen Kontrollpflichten "beunruhigend" finden.
Sorge vor einer neuen Flüchtlingswelle
Der italienische Premier Mario Draghi will beim informellen Abendessen am Montag auch die Gefahr einer neuen Flüchtlingswelle diskutieren. Auf der Insel Lampedusa waren zuletzt an einem Wochenende rund 2000 Flüchtende eingetroffen, über 13.000 wurden insgesamt an Italiens Küsten registriert. Italien hofft auf Hilfe anderer EU-Länder, aber bis auf politische Gesten etwa durch Deutschland oder Irland gibt es dafür bisher wenig Begeisterung.
Zuletzt hatte das Europaparlament angemahnt, die Seenotrettung von Flüchtenden zu verbessern. Hilfsorganisationen beklagen seit Jahresbeginn über 550 Todesopfer im Mittelmeer. Aber wegen der Weigerung einiger Osteuropäer, bei einer EU-weiten Umverteilung mitzumachen, stecken die Versuche für eine neue Flüchtlingspolitik und eine grundsätzliche Lösung des Problems seit Jahren fest.
Spanien wird auch die jüngsten Vorfälle in den Enklaven Ceuta und Melilla in Brüssel zur Sprache bringen. Madrid wirft der Regierung in Marokko vor, Flüchtlinge und Migranten zur politischen Erpressung einzusetzen. Sanktionen stünden derzeit nicht auf der Tagesordnung, erklären EU-Diplomaten. In einigen Mitgliedsländern jedoch wird auf eine Verschärfung des Tons gegenüber den nordafrikanischen Ländern Marokko und Tunesien gedrungen, die derzeit die Masse der Flüchtlinge nach Europa stellen.