Russlands Truppenabzug nur Täuschung?
7. Mai 2021Was passiert mit den russischen Truppen, die bis Mitte April an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen wurden? Sind sie tatsächlich in die Kasernen zurückgekehrt? Die Frage bleibt offen, doch das Bild wird klarer. Nachrichten aus Kiew, Washington und Brüssel legen nahe, dass sich Moskau mit dem Truppenabzug nicht beeilt.
Die Truppenbewegungen hatten in Kiew und in anderen westlichen Hauptstädten für Unruhe gesorgt. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj schätzte am Donnerstag beim Treffen mit US-Außenminister Antony Blinken in Kiew die Zahl russischer Truppen entlang der ukrainischen Grenze auf rund 75.000 Mann ein. Einen Tag zuvor nannte die US-Regierung in Washington eine höhere Zahl: 80.000.
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte am Donnerstag, Russland habe bisher lediglich einen kleinen Teil seiner Truppen abgezogen, doch "Zehntausende" seien geblieben. Gemeint sind offenbar russische Truppen auf der annektierten Krim sowie auf russischem Territorium nördlich und östlich der Ukraine.
Neue Eskalation im Donbass
Russische Truppen in diesen Regionen hatten bis Mitte April ihre maximale Konzentration seit 2014 erreicht. Aus Kiew gab es unterschiedliche Schätzungen, die von 90.000 bis zu über 100.000 Mann reichten. Russland sprach offiziell von "Überprüfung der Gefechtsbereitschaft" auf dem ganzem Territorium, inklusive Krim.
Der Truppenaufbau nahe der ukrainischen Grenze vollzog sich vor dem Hintergrund einer neuen Eskalation im Donbass, wo die Verluste ukrainischer Truppen im Stellungskrieg mit den von Russland unterstützen Separatisten dramatisch angestiegen waren. Dies wiederum verstärkte Befürchtungen, es könnte zu einer militärischen Konfrontation zwischen Russland und der Ukraine kommen.
Die Lage schien sich erst zu entspannen, als der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu die Rückkehr der Truppen zu ihren Standorten bis zum 1. Mai verkündete. Ende April zog der Generalstabschef Waleri Gerasimow bei einer Besprechung Bilanz und nannte zum ersten Mal die genaue Zahl der in ganz Russland an der "Überprüfung" beteiligten Truppen: mehr als 300.000 Mann.
An der ukrainischen Grenze wurden unter anderem Verbände von zwei Armee- sowie drei Fallschirmjägerdivisonen zusammengezogen, und zwar zusätzlich zu den Truppen, die ohnehin dort stationiert sind.
Bei der Besprechung Ende April mit Generalstabschef Gerasimow wurde mitgeteilt, dass die Truppen bereits größtenteils zurückgekehrt seien und bis zum 8. Mai oder bis spätestens 12. Mai lediglich noch Kriegsgerät transportiert würde. Doch es gibt Ausnahmen.
Ein Teil der Waffen der 41. Armee, die aus dem Zentralen Militärbezirk unter anderem ins Gebiet Woronesch verlegt wurden, soll bis zur russisch-weißrussischen Übung "West 2021" im September bleiben. Welche Waffen gemeint sind ist unklar.
Bleibt die Kriegsgefahr bestehen?
Der Moskauer Journalist und Militärexperte Pawel Felgenhauer sagte im Gespräch mit der DW, Russland habe einen Teil der Truppen von der Krim abgezogen, doch ein weiterer Teil der Truppen nördlich der Ukraine sei wohl geblieben. Erklärungen russischer Militärs über Waffen, die irgendwo gelagert würden und auf eine Übung warten sollten, seien "für diejenigen, die nichts verstehen", sagt Felgenhauer.
"Um Truppen abzuziehen und schwere Waffen zurückzulassen, braucht man zweifache Ausführungen solcher Waffen", so der Experte. "Das können sich finanziell nur die Amerikaner und sonst niemand leisten." Russland habe lediglich einen kleinen solchen Vorrat an Kriegsgerät in Südossetien, der abtrünnigen Provinz Georgiens.
Das Risiko einer großen militärischen Konfrontation zwischen Russland und der Ukraine sei nicht verschwunden, glaubt Felgenhauer: "Ein großer regionaler Krieg wird täglich wahrscheinlicher." Moskau schaffe eine Grundlage für einen möglichen "Flankenvorstoß" und eine schnelle Einkesselung der ukrainischen Armee, "ähnlich wie im August 2014 bei Ilowajsk in der Ostukraine", sagte er.
Das politische Ziel eines solchen Einsatzes dürfte es sein, günstige Bedingungen für Verhandlungen mit dem Westen über eine neue Aufteilung der Einflusssphären zu erreichen, eine Art "neues Jalta" wie 1945. "Die politische Entscheidung (über den Militäreinsatz) ist jedoch noch nicht getroffen", betont der Experte. Je nach Wetterlage und Zustand der Straßen in der Ostukraine könnte es in der zweiten Maihälfte oder im Sommer zu einer Eskalation kommen, lautet seine Prognose.
"Truppen als Druckmittel"
Mykola Sunhurowskyj, Militärexperte bei der Kiewer Denkfabrik Rasumkow-Zentrum, zweifelt ebenfalls an russischen Angaben über den Truppenabzug von der ukrainischen Grenze. Der Aufbau im April sei "keine einfache Übung gewesen, sondern ein Versuch, den Druck zu erhöhen", meint er.
Hintergrund sei die Lage in Russland selbst, darunter die kommende Parlamentswahl, aber auch jüngste Spannungen zwischen Russland und dem Westen. Die Truppen als Druckmittel dürften bleiben, "um die Ukraine und den Westen im angespannten Zustand zu halten", so seine Prognose. Die Zahl russischer Truppen an der Grenze zu Ukraine sei vergleichbar mit dem, was Kiew auf eigenem Gebiet stationiert hat.
Viel wichtiger sei laut Sunhurowskyj jedoch die Möglichkeit Russlands, schnell Reserven zu transportierten, um einen mobilen Krieg zu führen. Sollte es zu einer größeren Konfrontation kommen, habe Russland erhebliche Möglichkeiten, um tief im ukrainischen Hinterland zuzuschlagen.
Auch Pawel Felgenhauer sieht Russland im Vorteil bei einer mobilen Kriegsführung. Moskau habe in den vergangenen Jahren eine starke militärische Kraft entlang der ukrainischen Grenze aufgebaut. Im April sei getestet worden, "wie man Truppen des Zentralen Militärbezirks hinzuziehen kann".
Es handelt sich um den flächenmäßig größten von fünf russischen Militärbezirken, der Gebiete am Ural, an der Wolga und in Sibirien umfasst. Der Kiewer Experte Sunhurowskyj glaubt, dass die Ukraine auf einen lokalen Konflikt besser als auf einen frontalen Zusammenstoß mit Russland vorbereitet sei. Das letzte Szenario hält er für weniger wahrscheinlich - wegen drohender westlichen Sanktionen.