Wladimir Putin wird die Ukraine nicht auf dem Landweg angreifen, sondern vom Schwarzen Meer aus die Häfen einnehmen oder blockieren und einen Land-Korridor schaffen, der die Krim mit Russland verbindet. Die NATO wird dieses Vorgehen zwar kritisieren, aber nicht eingreifen. Schließlich ist die Ukraine kein Mitglied des Bündnisses und fällt damit auch nicht unter Artikel 5 des NATO-Vertrages, der den Mitgliedern die gegenseitige Verteidigung garantiert. So lautet die Essenz eines Kommentars bei Bloomberg von US-Admiral James Stavridis, dem früheren Oberbefehlshaber der Nato in Europa.
Möglicherweise hat die regionale Initiative der B9, der neun östlichen NATO-Partner, beim virtuellen Treffen mit NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg und US-Präsident Joe Biden diese Woche ein ähnliches Szenario diskutiert. Nach Putins Militär-"Übungen" an der ukrainischen Grenze im April sollte kein mögliches Szenario außer acht gelassen werden. Offizielle Stimmen in der Ukraine sagen, es gebe noch eine große Zahl von Truppen in unmittelbarer Nähe des Landes, obwohl die Militärübungen an der Grenze offiziell vorbei seien.
Wie viel Druck braucht der Kreml?
Die B9 wurden 2014 auf Initiative von Rumänien und Polen infolge von Putins Annexion der Krim ins Leben gerufen. Weitere Mitglieder sind Lettland, Litauen, Estland, die Tschechiche Republik, die Slowakei, Ungarn und Bulgarien. Obwohl Ungarn und Bulgarien für eine sanftere Haltung gegenüber Putins Russland bekannt sind als sie anderen Staaten, steht die Gruppe insgesamt für einen Ansatz des größtmöglichen Drucks auf den Kreml.
Einige Verbündete, darunter Deutschland und Frankreich, betrachten diesen Block als zu militant und sind in ihrem eigenen Ansatz gegenüber Russland zurückhaltender. Doch nach den Kriegsspielen des Kremls im April und Berichten über Russlands Beteiligung an Sabotage in der Tschechischen Republik können die zentraleuropäischen und baltischen Staaten jetzt sagen: "Sehr Ihr? Wir haben es Euch gleich gesagt."
Dass Joe Biden sich mit Jens Stoltenberg und der B9-Initiative getroffen hat, sichert der Gruppe die Aufmerksamkeit des wichtigsten NATO-Mitglieds: den USA. Bei seinem kürzlichen Besuch in Kiew sicherte US-Außenminister Antony Blinken der Ukraine mehr US-Waffenlieferungen zu. Er deutete auch an, dass das Land möglicherweise auch den Status eines globalen Partners bekommen könnte. Eine Ehre, die nur besonders bewährten Partnern wie Südkorea, Australien oder Jordanien zuteil wird. Falls die Ukraine ein solches "Upgrade" erhält, dann folgt Georgien sicher auch bald.
Putins rote Linien
Putin meint, dass kein anderer ehemaliger Sowjetstaat auch nur davon träumen sollte, Mitglied der NATO zu werden. Das ist seine "rote Linie". Und die zieht er noch schärfer, weil er mit dem Wiederaufbau des sowjetischen Supermacht-Status sein persönliches Prestige verbindet und das militärische Muskelspiel so einen positiven PR-Effekt auf die sogenannte "Putin-Mehrheit" in Russland hat.
Seit Putin im vergangenen Jahr seine Pseudo-Volksabstimmung abhielt, die ihm nun erlaubt, bis ins Jahr 2036 zu regieren, muss die NATO auf Moskaus geostrategische Ambitionen schauen. Auch wenn das Schwarze Meer immer wieder eine Region mit Priorität genannt wird, ist dort keine Strategie der Allianz erkennbar. Tatsache ist aber, dass die Ukraine (und Georgien) nicht aufhören werden, bei der NATO anzuklopfen.
In den sieben Jahren der Konfrontation mit den russischen Streitkräften hat das ukrainische Militär Erfahrungen gesammelt. Mit dem Zugang zu US-Waffen sind sie inzwischen viel besser ausgerüstet und ausgebildet. Ihre Offiziere werden regelmäßig in NATO-Staaten fortgebildet. Die politische Kontrolle des Militärs entspricht weitgehend den NATO-Standards. Die häufig zitierte Anforderung an einen Beitrittskandidaten, er dürfe keine territorialen Auseinandersetzungen mit seinen Nachbarn haben, wird zwar als wichtig angesehen, ist aber keine formale Voraussetzung im Gründungsdokument des Bündnisses - dem Washingtoner Vertrag von 1949.
Künftige Verbündete vor der Tür stehen lassen?
Während die Sowjetunion aus dem historischen Gedächtnis verschwindet, wird die ukrainische politische und militärische Führung immer beharrlicher darauf bestehen, dass ihr Beitritt zur NATO die einzige wirkliche Garantie für nationale Sicherheit ist. Und seit Ukrainern und Georgiern auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 eine künftige Mitgliedschaft versprochen wurde, wird es für die Allianz zunehmend schwierig, gleichzeitig Russland zu beschwichtigen und die künftigen Verbündeten vor der Tür stehen zu lassen.
Als jemand, der als unberechenbar gilt, könnte Putin sich durchaus zu einem "Präventiv-Schlag" gegen die Ukraine entschließen. Und angesichts der stark gewachsenen Schlagkraft der ukrainischen Streitkräfte könnte das einen Krieg am Schwarzen Meer auslösen, dessen Ausmaß mit dem Konflikt von 2014-2015 nicht zu vergleichen wäre.
Ein solcher Krieg würde die globalen Märkte treffen und die wacklige Stabilität an der Südflanke der NATO beenden. Sollte die Ukraine geschlagen werden - eine klare Möglichkeit, angesichts der ungleichen Machtverhältnisse - würde der Kreml die vorherrschende Macht am Schwarzen Meer. Und nach den vielen Jahren der Zusammenarbeit mit Kiew wäre es auch eine Niederlage für die NATO. Aber vor allem würde es die Allianz spalten und stark schwächen, bei der die B9 seit Jahren Alarm schlagen. Ein solcher Ausgang wäre für Putin der größte Sieg.