"Es werden wieder viele Menschen kommen"
1. März 2020Sie blockieren die Straße ins Flüchtlingslager Moria: Die Einheimischen auf Lesbos haben die Nase voll, sie wollen nicht noch mehr Migranten auf ihrer Insel, in dem ohnehin überfüllten Camp, in dem die Menschen unter katastrophalen Bedingungen ausharren. Es sind aber viele frisch angekommen, am Sonntagmorgen, mit dem Boot aus der Türkei - von einigen hundert Menschen, die es geschafft haben, sprechen griechische Medien. Die Neuankömmlinge sollen mit Bussen ins Lager Moria gebracht werden - eigentlich. Fürs erste ist die Straße dicht.
Wie angespannt die Situation ist, bekommen wir Journalisten zu spüren und auch der grüne Abgeordnete im Europaparlament, Erik Marquardt. Bewohner bedrohen uns, die Polizei nimmt Marquardt und mich vorübergehend mit und verbietet uns, an den Strand zu gehen.
Christina Chatzidaki kann kaum glauben, was auf ihrer Heimatinsel Lesbos passiert. Flüchtlinge habe es hier nicht erst seit 2015 gegeben, erzählt die 87-Jährige, sondern bereits in den 1990er Jahren. Schon damals engagierte sie sich für die Schutzsuchenden. Die kamen zu dieser Zeit vor allem aus dem Bürgerkriegsland Jugoslawien. Bis heute setzt sich Christina Chatzidaki für gute Beziehungen zwischen den Inselbewohnern und den Migranten ein. Rund 25.000 leben derzeit auf der Insel, im völlig überfüllten, unhygienischen Zeltchaos des Flüchtlingslagers Moria.
Schon bald könnten es noch viel mehr werden. Die Nachricht, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Grenzen zu Griechenland für syrische Flüchtlinge geöffnet hat, ist für die Menschen auf den Inseln Lesbos, Chios und Samos eine Hiobsbotschaft. An der Landgrenze zwischen der Türkei und Griechenland eskaliert die Lage bereits. Dort hindert die griechische Polizei bislang Migranten am Grenzübertritt, so das Migrationsministerium in Athen. Auch auf den griechischen Inseln erwartet man, dass sich an der türkischen Küste unzählige Boote zur Abfahrt bereit machen - Boote mit Menschen, die seit Monaten oder Jahren auf eine Gelegenheit zur Weiterreise nach Europa warten.
Athen und Brüssel haben den Bogen überspannt
Angesichts von immer mehr Neuankömmlingen fühlen sich die Einwohner von Lesbos, Chios und Samos schon lange allein gelassen - von ihrer Regierung in Athen und der Europäischen Union, die weiter auf das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei setzen. Warum man an den Erfolg dieser Vereinbarung glaubt, ist für die Inselbewohner nicht nachvollziehbar.
Griechenlands Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis wollte die Situation vor allem mit zwei Maßnahmen in den Griff bekommen: Durch ein härteres Asylgesetz, um möglichst viele Menschen wieder in die Türkei abzuschieben zu können, und den Bau geschlossener Flüchtlingszentren auf den Inseln. Doch ob er das umsetzen kann, ist ungewiss. Die Eskalation an der griechisch-türkischen Grenze zeigt: Ankara meint es offenbar ernst damit, den Flüchtlingsdeal platzen zu lassen. Und auf den Inseln regt sich heftiger Widerstand gegen geschlossene Zentren.
"Man kann doch Menschen, die Jahre und Monate hier unter uns gelebt haben, nicht einfach in ein Gefängnis sperren", sagt ein Ladenbesitzer im Zentrum von Mytilini, der größten Stadt auf Lesbos. "So machen wir sie doch erst recht zu Kriminellen." Auch aus diesem Grund waren in der vergangenen Woche viele Inselbewohner auf die Straße gegangen und hatten sich teils heftige Gefechte mit der Polizei geliefert. Ihre Botschaft an Athen und Brüssel: Der Bogen ist überspannt! Jahrelang hatten Bürger, Freiwillige und Menschenrechtsaktivisten gewarnt, dass die Situation auf den Inseln weder für die Geflüchteten noch für die Inselbewohner tragbar sei.
Hunger und Gewalt in den Flüchtlingslagern
"Es ist eigenartig. Zum ersten Mal sind sich alle auf der Insel einig, von extrem rechts, bis extrem links", berichtet ein 40-jähriger Lehrer. Doch die griechische Regierung hält an ihren Plänen für geschlossene Lager fest. Und als Reaktion auf die Proteste schickte Athen das berüchtigte Sondereinsatzkommando der Bereitschaftspolizei MAT. Auf Samos haben die Arbeiten für ein geschlossenes Zentrum bereits begonnen. Auf Lesbos wollen viele Bewohner das um jeden Preis verhindern.
"Sie können aus uns doch kein Ellis Island machen", bemüht Christina Chatzidaki einen Vergleich zu der kleinen Insel vor New York City, die 30 Jahre lang die Sammelstelle für Immigranten in die USA war. Christina Chatzidaki ärgert sich darüber, wenn man den Menschen auf Lesbos nun pauschal Xenophobie vorwirft. Neonazis gebe es, die aber seien nur eine kleine Gruppe. Die meisten seien einfach überfordert: "In Mytilini leben 30.000 Menschen. Gleichzeitig befinden sich 25.000 Flüchtlinge auf der Insel. Schon allein dieser Vergleich zeigt, wie absurd das Ganze ist."
Auch im Flüchtlingscamp wächst die Anspannung, immer wieder gibt es gewalttätige Auseinandersetzungen. Zu den beengten und teils menschenunwürdigen Lebensbedingungen kommt die Ungewissheit, die hart auf den Menschen lastet. Oft warten Asylsuchende nicht wie vorgesehen sechs Monate auf ihr Asylverfahren, sondern jahrelang. Ein 42-jähriger Mann aus Nigeria ist seit 2017 in Moria. Die Zustände seien unerträglich: "Bitte holt uns hier raus. Wir leiden. Wir bitten die Europäer, uns zu helfen."
Salam Aldeen kennt die Situation. Er gründete die dänische Nichtregierungsorganisation Team Humanity, die direkt neben dem Flüchtlingscamp ein Center betreibt. Im vergangenen Jahr hatte die griechische Polizei ihn des Landes verwiesen. Aldeen vermutet, dass er den Behörden ein Dorn im Auge war, weil er auf Missstände aufmerksam machte und mit Journalisten sprach. Dass die Türkei nun wieder Flüchtlinge passieren lässt, bereitet auch ihm Sorge: "Es werden viele Menschen kommen und es werden wieder Menschen ertrinken. Die griechische Armee wird Leute zurückdrängen und Unfälle verursachen."
Auch diejenigen, die es übers Mittelmeer ans griechische Ufer schaffen, seien nicht in Sicherheit: "Es wird nicht genug zu essen geben, die Situation im Lager wird weiter eskalieren, es wird Kämpfe mit der Polizei geben und den Menschen auf der Insel wird endgültig der Geduldsfaden reißen. Wir erreichen hier einen mehr als kritischen Zustand."
Die EU im Wettlauf gegen die Zeit
Sotiris Serbos, Professor für Internationale Beziehungen an der Demokrit-Universität in der griechischen Stadt Komotini, hofft auf die EU. Sie müsse nun endlich eine tragfähige Strategie entwickeln, gerade auch für die Beziehungen mit der Türkei: "Die EU befindet sich im Wettlauf mit der Zeit. Die kurzfristig gedachten Ansätze, das ewige Abwarten und sich dann irgendwie durchschlagen, all das muss nun ein Ende haben." Das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei sei wirkungslos, meint Serbos und rechnet vor: "Von 150.000 Ankünften in Griechenland seit Bestehen des Abkommens sind nur 2000 Menschen abgeschoben worden, also 1,3 Prozent."
Serbos fordert, wogegen viele EU-Mitglieder sich sträuben: eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge auf alle Länder der Gemeinschaft. "In diesen Zeiten müssen wir umdenken. Wir müssen eine neue Strategie entwickeln und Menschen direkt aus der Türkei in die entsprechenden Länder umsiedeln."
Auf Lesbos haben die meisten Menschen die Hoffnung aufgegeben, dass sich in Brüssel etwas bewegt. Sie befürchten, dass die Touristen, wie schon in den vergangenen beiden Jahren, ihre Insel wieder meiden werden - obwohl sich die Flüchtlinge ausschließlich in der Inselhauptstadt Mytilini und im Camp Moria aufhalten. Doch wahrscheinlich ist, dass es noch mehr Schutzsuchende werden: Sobald der Wind sich legt und das Wetter wärmer ist, wird, wie in den vergangenen Sommern, die Zahl der Bootsflüchtlinge von der türkischen Küste wieder deutlich steigen - ob mit oder ohne Vereinbarung mit der Türkei.