Bricht jetzt der Flüchtlingsdeal EU-Türkei?
28. Februar 2020Kurz nach der militärischen Auseinandersetzung zwischen türkischen und syrischen Truppen rund um Idlib, die letzte Bastion der Rebellen in Syrien, kamen Gerüchte auf, die Türkei werde jetzt ihre Grenzen nach Europa für syrische Flüchtlinge öffnen. Ein Sprecher der Regierungspartei AKP, Ömer Celik, hatte damit gedroht, dass die Türkei Flüchtlinge nicht davon abhalten werde, nach Griechenland zu reisen. In türkischen Medien tauchten Berichte auf, Busse mit Flüchtlinge seien bereits in Richtung türkisch-griechischer und türkisch-bulgarischer Grenze aufgebrochen.
Das türkische Außenministerium wies diese Berichte am Freitagvormittag allerdings zurück. "In der Flüchtlings- und Migrationspolitik unseres Landes, das die meisten Flüchtlinge in der Welt aufgenommen hat, gibt es keine Änderung", erklärte der Sprecher des Außenministeriums, Hami Aksoy. Im Falle einer Verschlechterung der Lage in Nordsyrien sei aber zusätzlicher Druck durch Flüchtlingsbewegungen nicht auszuschließen, so Aksoy. Die bereits drei bis vier Millionen syrischen Flüchtlinge im Land bemerkten die Lage natürlich und könnten sich in Richtung westliche Grenze der Türkei bewegen, heißt es in der Stellungnahme des Außenministeriums.
EU-Kommission sieht kein Ende des Deals
Die EU-Kommission in Brüssel reagierte wiederum erleichtert auf die Stellungnahme aus Ankara. Ihr Sprecher Peter Stano sagte, die Türkei habe die EU nicht offiziell darüber informiert, dass sie sich nicht mehr an das vor knapp vier Jahren vereinbarte Flüchtlingsabkommen halten wolle. "Wir gehen davon aus, dass die Türkei weiter ihre Seite der Vereinbarungen einhält", erklärte Stano, trotz der gefährlichen Eskalation in Syrien. Die EU werde jetzt die Lage an denen Grenzen prüfen, wo sie mit EU-Grenzschutz-Beamten und Experten der Asylverfahren-Agentur (EASO) vertreten ist.
Erdogans langer Hebel
In den vergangenen Jahren hatten türkische Regierungsvertreter und auch Präsident Recep Tayyip Erdogan selbst damit gedroht, den sogenannten Flüchtlingsdeal aufzukündigen und "Busse an die Grenze zu schicken". Bereits im November 2015, vier Monate bevor das Abkommen formal geschlossen wurde, drohte Erdogan am Rande des G20-Gipfels in Antalya, er werde die Grenzen öffnen, wenn die EU nicht zahlen wolle. Damals ging es um drei zusätzliche Milliarden Euro, die der türkische Präsident am Ende auch bekam. Schon damals hieß es von EU-Diplomaten: "Wir sind an diesem Punkt erpressbar, und das weiß Erdogan auch."
Das Flüchtlingsabkommen vom 18. März 2016 besagt, dass die Türkei syrische Flüchtlinge, die es bis nach Griechenland schaffen, wieder zurücknimmt. Für jeden zurückgenommenen Migranten darf die Türkei einen Flüchtling aus dem eigenen Land in die EU überstellen. Außerdem soll die Türkei Schlepper daran hindern, Flüchtlinge in Boote zu setzen und über die Ägäis zu schicken.
Die Landgrenze zwischen Griechenland und der Türkei sowie zwischen Bulgarien und der Türkei ist für Flüchtlinge theoretisch geschlossen. Als Gegenleistung erhielt die Türkei im Laufe der vergangenen vier Jahre sechs Milliarden Euro für die Unterbringung, Versorgung und Ausbildung der drei Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei. Außerdem sollten Verhandlungen über einen Beitritt der Türkei zur EU, visumfreies Reisen für türkische Staatsbürger und eine Verlängerung der Zollunion mit der EU beschleunigt werden.
Die türkische Regierung beklagt seit langem, dass die sechs Milliarden Euro nicht vollständig ausgezahlt wurden und die EU die übrigen Bedingungen auch nur schleppend erfüllt. Die EU-Kommission stellt das anders dar. Nach ihren Angaben sind sechs Milliarden Euro geflossen, die aber nicht direkt an die türkische Staatskasse gehen, sondern über Hilfsorganisationen in die Flüchtlingsarbeit eingespeist wurden.
EU ist bereit zu zahlen
Im Januar war Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Gast in Istanbul und sprach mit Präsident Erdogan über die von ihm wiederholt geforderte Aufstockung der Flüchtlingshilfe durch die EU. In den nächsten Jahren will die EU weitere Milliarden bereitstellen. Merkel erklärte sich bereit, den Bau von Flüchtlingsunterkünften in der türkisch besetzten Zone Syriens zu fördern - aus der Sicht der EU ein großes Zugeständnis an Erdogan.
In den vergangenen vier Jahren hat das Flüchtlingsabkommen vor allem den gewünschten abschreckenden Effekt gehabt. Die syrischen Flüchtlinge, die wussten, dass sie spätestens auf griechischen Inseln stranden würden, haben sich gar nicht erst auf den Weg gemacht. Es sind kaum noch Schutzsuchende nach Griechenland gekommen.
Allerdings hat die EU die Bestimmungen des Flüchtlingspaktes nie konsequent umgesetzt. Griechenland war und ist trotz massiver finanzieller und personeller Hilfen aus Brüssel nicht in der Lage, Asylbewerber aus Syrien in den sogenannten "Hot Spots" auf den griechischen Inseln abzufertigen. Die Verfahren dauern Monate oder gar Jahre. Dementsprechend gibt es auch nur relativ wenige Rückführungen in die Türkei, die das Abkommen ja vorsieht. Das führt dazu, dass sich mittlerweile 20.000 Menschen auf den östlichen Inseln Griechenlands unter menschenunwürdigen Bedingungen in den Flüchtlingslagern wie Moria auf Lesbos "stauen".
Außerdem weigern sich viele EU-Staaten, aus der Türkei überstellte syrische Flüchtlinge in ausreichender Zahl aufzunehmen. "Wenn die EU das nicht bald ändert, wird das Abkommen wohl scheitern", meint der Architekt des Deals, Gerald Knaus. Knaus ist Soziologe und Migrationsforscher in Österreich und hat die EU 2015 und 2016 beraten.
Nervöse Reaktionen in der EU
Allerdings hat sich auch die Türkei, insbesondere ihr Umgang mit der Meinungsfreiheit, in den vergangenen vier Jahren verändert. Die Regierung geht gegen unabhängige Journalisten und Kritiker hart vor. Auch deutsche Staatsangehörige sitzen dort in Haft. Nach dem Putschversuch in der Türkei 2016 hat sich das Verhältnis zur EU stark abgekühlt. Trotz seiner mangelhaften Umsetzung gilt das Türkei-Abkommen in der EU-Kommission jedoch als einzige Rückversicherung dafür, dass sich ein Andrang von Flüchtlingen über die Balkanroute wie 2015 nicht wiederholt.
Entsprechend nervös sind die Reaktionen, wenn die Türkei einmal mehr mit einem Ende des Deals zu drohen scheint. Die bulgarische Regierung hat bereits erklärt, zusätzliche Truppen an die Grenze verlegen zu können, falls nötig. Der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis und Bundeskanzlerin Angela Merkel haben telefonisch über die Lage an der griechisch-türkischen Grenze beraten. Auch mit dem türkischen Präsidenten hat die Kanzlerin gesprochen. Das Motto heißt: Vereinbarungen einhalten und noch Ruhe bewahren.