Doppelte Drohnen-Standards
24. April 2015Noch nie hat die US-Regierung offen gelegt, wie viele Zivilisten durch Drohnenschläge im Anti-Terror-Kampf umgekommen sind. Die Informationen über Angriffe mit Washingtons bevorzugter Waffe gegen militante Islamisten unterliegen der Geheimhaltung. Am Donnerstag räumte US-Präsident Barack Obama allerdings öffentlich ein "Versehen" ein: Bei einem Drohnenangriff auf einen Al-Kaida-Stützpunkt wurden im Januar zwei Entwicklungshelfer gemeinsam mit ihren Geiselnehmern getötet.
Der Angriff galt nach Angaben der US-Regierung einem Gebäudekomplex der Terrororganisation in der afghanisch-pakistanischen Grenzregion. Es ist unklar, ob eine spezielle Person Ziel des Luftschlags war. Der mutmaßliche amerikanische Al-Kaida-Kämpfer Ahmed Farouq wurde dabei getötet. Das Weiße Haus räumte allerdings ein, dass es im Vorfeld nicht von Farouqs Anwesenheit in dem Gebäude wusste. In einem anderen Einsatz in der Region wurde mit Adam Gadahn ein weiteres mutmaßliches amerikanisches Al-Kaida-Mitglied getötet. Auch er war nach Angaben der US-Administration nicht das eigentliche Ziel des Einsatzes.
Obwohl der Drohnenangriff bereits Monate zurückliegt, behauptet das Weiße Haus, erst in den letzten Tagen Gewissheit über den Tod der beiden westlichen Geiseln erlangt zu haben. Es handelt sich um den US-Bürger Warren Weinstein und den Italiener Giovanni Lo Porto. Für die Familien der Opfer werde es eine Entschädigung geben, hieß es aus Washington.
Der 73-jährige US-amerikanische Arzt Warren Weinstein geriet 2011 in Lahore in Gefangenschaft. Lo Porto, 39, wurde seit Januar 2012 in Pakistan vermisst. Er arbeitete für die Deutsche Welthungerhilfe. Das Weiße Haus erklärte, man habe kurz vor dem Angriff nicht gewusst, dass sich die beiden Geiseln in dem Gebäudekomplex aufhielten.
"Keine Worte können ihren Verlust aufwiegen", sagte Obama auf einer Pressekonferenz an die Angehörigen der Opfer gewandt. Er bereue "zutiefst, was geschehen ist", und übernehme die volle Verantwortung für alle Operationen gegen den Terrorismus.
HRW: "Skrupelloser Doppel-Standard"
Sobald der Tod der beiden westlichen Entwicklungsarbeiter bestätigt worden sei, habe er die geheimen Informationen des Einsatzes freigegeben, erklärte Obama. "Die Familien Weinstein und Lo Porto verdienen es, die Wahrheit zu erfahren", begründete der US-Präsident seine Entscheidung und ergänzte, die amerikanische Demokratie sei der Transparenz verpflichtet, in guten wie in schlechten Zeiten.
Dies gilt allerdings nicht für die Familien der pakistanischen, somalischen und jemenitischen Zivilisten, die bei US-Drohnenangriffen getötet wurden, sagt Letta Tayler. Sie ist Expertin für Terrorismus und Terrorbekämpfung bei der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW). Die US-Regierung gibt üblicherweise keinerlei Auskunft über zivile Opfer von Drohnenangriffen. "Es ist überaus selten, dass die US-Regierung die Tötung von Zivilisten bei Drohnenangriffen offen eingesteht", sagt Tayler im Gespräch mit der DW. In den ihr bekannten Fällen komme dies nur vor, wenn entweder ein US-Bürger oder ein Bürger einer mit den USA verbündeten Nation getötet werde. "Das ist ein skrupelloser Doppelstandard", klagt Tayler. "Es ist empörend, dass die US-Regierung nicht bereit ist, die Tötung von nicht-westlichen Zivilisten offenzulegen."
Nach Recherchen der Londoner Gruppe "Bureau of Investigative Journalism" wurden im vergangenen Jahrzehnt mindestens 486 unschuldige Menschen bei Luftschlägen mit Drohnen in Pakistan und im Jemen getötet. Unter den Opfern der US-Geheimoperationen könnten sich mehr als 1000 Zivilisten befunden haben, glaubt die Nichtregierungsorganisation. Dies beinhaltet nicht die Drohnenangriffe in Somalia und Afghanistan.
Mehr Transparenz gefordert
Tayler zufolge liegt ein Teil des Problems darin, dass der US-Drohnenkrieg hauptsächlich von der CIA geführt werde. Und ein Auslandsgeheimdienst arbeite nun einmal von Natur aus verdeckt. Laut der Terrorismusexpertin sollte das Drohnenprogramm unter die Aufsicht des Verteidigungsministeriums gestellt werden, das - zumindest theoretisch - zu mehr Transparenz verpflichtet ist.
"Ich hoffe, der tragische Vorfall wird die Obama-Administration und die amerikanischen Öffentlichkeit dazu bewegen, den Mantel des Schweigens zu lüften, der über dieses gewaltige geheime Tötungsprogramm gelegt wurde", sagt Tayler. "Präsident Obama selbst hat bei seiner Grundsatzrede im May 2013 mehr Transparenz zu den Drohnenangriffen versprochen. Zwei Jahre später sehen wir davon so gut wie nichts."
Die amerikanische Bürgerrechtsvereinigung American Civil Liberties Union (ACLU) hat drei Klagen eingereicht, um die US-Regierung dazu zwingen, Informationen über wesentliche Verfahrensweisen im Zusammenhang mit den Drohnenangriffen freizugeben. Dazu gehören die juristische Rechtfertigung für Drohnenangriffe, die Auswahl von Zielen, die Einschätzungen über mögliche zivile Opfer vor einem Angriff ebenso wie die Ermittlungen der Opferzahlen und Informationen über die Opfer nach einem Angriff.
"Die neuen Enthüllungen werfen einige Fragen über die Verlässlichkeit der Geheimdienstinformationen auf, die der Regierung zur Rechtfertigung eines Drohnenangriffes zugrunde liegen", erklärt der stellvertretende ACLU-Direktor für Rechtsfragen, Jameel Jaffer, in einer Pressemitteilung nach dem Tod der beiden westlichen Zivilisten. "In jeder der bislang offen eingeräumten Drohnen-Operationen wusste die US-Regierung eigentlich nicht, wen sie tötet." Für Jaffer steckt der US-Präsident in einem Dilemma: "Unglücklicherweise kann Obamas Transparenzversprechen nicht mit der Geheimhaltung in Einklang gebracht werden, die so gut wie jeden Aspekt des staatlichen Drohnenprogramms umfasst."