Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts
28. Mai 2014Mehr als 15 Millionen tote Soldaten und Zivilisten, zahllose fürs Leben gezeichnete Invaliden, mehrere zerbrochene Imperien und in der Folge eine nachhaltig veränderte Landkarte Europas – wie erzählt man vom Ersten Weltkrieg, dieser heute so bezeichneten "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts"? Im Deutschen Historischen Museum in Berlin wurde eine überzeugende Lösung gefunden: Auf einem anschaulichen Parcours wird der Besucher zu 14 Orten geführt, die beispielhaft sind für Ereignisse und Entwicklungen dieses Krieges. Dabei wird Geschichte anhand von ausgewählten Objekten anschaulich, teilweise auch sehr persönlich erzählt. Und schnell wird deutlich, wie rasant die Gewalt in diesen Jahren zwischen 1914 und '18 eskaliert ist.
Am Vorabend des Krieges
Los geht es in einem Vorraum, der mit sparsamen Mitteln die Verfasstheit Europas am Vorabend des großen Gemetzels skizziert: Damals, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, strotzte der Kontinent nur so vor Dynamik und selbstbewusster Macht. Seine Hauptstädte waren mondän, Wirtschaft und Banken grenzüberschreitend tätig, Könige, Kaiser und Zaren miteinander verschwistert und verschwägert. Eine große Familie, die wirtschaftlich und politisch allerdings konkurrierte und massive Probleme mit der Aufteilung der Welt hatte. Zumal das Deutsche Reich in Gestalt seines Kaisers Wilhelm II. seit Mitte der 1890er Jahre eine "deutsche Weltpolitik" propagierte, ernsthafte Ansprüche auf Kolonien erhob und die deutsche Kriegsmarine in wenigen Jahren zu bedrohlicher Größe ausbaute. Nah und vertraut sind uns heute die Straßenszenen aus den Großstädten jener Zeit, das zivile Leben. Fremd hingegen mutet die martialische Marschmusik an, die durch den Ausstellungsraum wabert. Der damals in beinahe allen deutschen Staaten vorherrschende Militarismus ist zu spüren.
Sechs Wochen nach dem Attentat auf das österreichisch-ungarische Thronfolgerpaar in Sarajewo begann der Krieg. Die Welt geriet aus den Fugen, im Deutschen Historischen Museum versinnbildlicht durch auseinanderbrechende Wände, die mit den Titelseiten europäischer Zeitungen aus jenen Wochen tapeziert sind. Der Weg an ihnen vorbei führt direkt zu auf August von Kaulbachs Gemälde der Germania. Abwehrbereit, mit dem Schild in der Hand, steht die Walküre da. "Man glaubte ja", erläutert Andreas Nix, einer der Kuratoren der Ausstellung, "einen gerechten Verteidigungskrieg zu führen." Und in den zog man so, wie man es schon im 19. Jahrhundert getan hatte - mit wehenden Regimentsfahnen, der Pickelhaube auf dem Kopf und im stürmischen Laufschritt über die Felder. Nun aber, und das war neu, hinein in die Salven der Maschinengewehre.
Die neue Dimension des Krieges
Zwischen 1914 und 1918 haben allein für Deutschland rund zwölf Millionen Männer gekämpft. Insgesamt wird die Zahl der Soldaten des sogenannten "Großen Kriegs" auf etwa 60 Millionen geschätzt. An der Marne, einer der 14 Stationen der Ausstellung im Deutschen Historischen Museum, hat dieser neue Krieg seine menschenverachtende Fratze erstmals hemmungslos gezeigt. Maschinengewehre und schnell feuernde Artillerie mähten die Männer einfach um, die Zahl der Opfer in den ersten Kriegswochen war unerwartet hoch. Schützengräben wurden ausgehoben, bald zog sich ein dichtes Netz von der Kanalküste bis an die Schweizer Grenze. Die Front erstarrte, niemand sprach mehr von einem raschen Kriegsende. Und die weißen Glacéhandschuhe, die der Soldat Gottlob Lieb für den Einmarsch in Paris in seinem Tornister verwahrte, sollten niemals zum Einsatz kommen. Der Erste Weltkrieg, er war alles andere als ein kurzer Sommerausflug!
In den engen Schützengräben hat man sich mit archaischen Waffen wie dem Morgenstern, einer mittelalterlichen Schlagwaffe, gegenseitig umgebracht. Am Boden, in der Luft und zu Wasser aber hatte längst der Wettlauf um immer moderne, will sagen: schlagkräftigere Waffen eingesetzt: am 22. April 1915 setzten deutsche Truppen bei Ypern in Belgien erstmals Chlorgas ein, und in der "Hölle" von Verdun gingen bis Ende 1916 26 Millionen Sprenggranaten und 100.000 Giftgasgranaten nieder. Im Deutschen Historischen Museum finden sich für diese unglaublichen Zahlen eindringliche Bilder: hinter einem Gazevorhang hängen angeleuchtete Gasmasken. Sobald der Besucher näher an sie herantritt, ertönen Ratschen. Mit diesen einfachen Instrumenten wurde einst vor den unsichtbaren Waffen gewarnt.
Der totale Krieg
Die Berliner Ausstellung folgt der Chronologie und der Typographie des Ersten Weltkriegs. Sie erzählt vom Krieg in Ost und West, von Europas Krieg in Afrika, neuen Fronten im Osmanischen Reich und vom Krieg in den Bergen. Sie zeigt die Schneeschuhe, in denen sich die Soldaten durchs Gebirge gekämpft haben, das Toilettenpapier und die Spiele – "Dame fürs Feld" - die sie in ihren Rucksäcken mit sich trugen, die Briefe und Fotos von daheim. Sie zeigt patriotisches Spielzeug, etwa ein kleines Feldlazarett, und kontrastiert diese Heroisierung des Soldatenlebens mit nackten Tatsachen. Mit den Fotos grausamer offener Wunden, mit den Bildern erhängter Gefangener, mit Tagebuchaufzeichnungen oder einem Wachsmodell einer von Syphilis zerfressenen Vulva auf einem Berliner Küchentisch. Aus den Bordellen an der Front und in den besetzten Gebieten haben die Männer nämlich auch Geschlechtskrankheiten mit nach Hause gebracht, trotz der massenhaft verteilten Kondome. Das bedeutete weiteren Schmerz für die unter Hunger und Mangelwirtschaft leidenden Frauen und Familien.
Knapp 500 Exponate – Militaria, Uniformen, Waffen, Fotografien, Filme, Alltagsgegenstände, Gemälde, Zeichnungen, Briefe, Tagebücher – aus 13 Ländern verdeutlichen im Deutschen Historischen Museum, dass die Bösartigkeit in jenen Jahren keine Grenze gesetzt bekam. Und dass dieser Krieg der erste totale Krieg war, für den alle beteiligten Gesellschaften mobilisiert wurden. Nie zuvor hatte es so ausgeklügelte Kriegswirtschaften gegeben, nie zuvor Kriegsgefangene, die über Jahre hinweg interniert und zu Zwangsarbeit herangezogen wurden, nie zuvor eine derart ausgetüftelte Kontrolle der Bevölkerung in besetzten Gebieten. Eine lohnende, eine nachdenklich stimmende Ausstellung!