800 Kilometer Erinnerung
12. März 2014Jeden Abend marschiert eine Abordnung der belgischen Feuerwehr am Menen-Tor in Ypern auf, um das Hornsignal "The Last Post" zu blasen, den englischen Zapfensteich - zu Ehren der vermissten Soldaten, zur Erinnerung an die Flandernschlachten. Jeden Abend seit 1928 halten die Menschen dort inne, steht der Verkehr rund um den Torbogen um 20 Uhr für ein paar Minuten still.
Das ostfranzösische Verdun, Schauplatz einer der furchtbarsten Schlachten, ist ein regelrechtes Freilichtmuseum des Krieges und seiner Schecken. Zentraler Ort hier: Das Beinhaus von Douaumont, das die Gebeine von etwa 130.000 Gefallenen enthält und in der Tradition eines mittelalterlichen Ossariums steht. Im September 1984 gingen Bilder vom Beinhaus um die Welt: Damals fassten sich der französische Präsident François Mitterand und der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl bei einer Gedenkfeier vor dem Douaumont spontan an den Händen. Das war vor 30 Jahren.
Erst jetzt, zu den Hundertjahrfeiern, ist erstmals der Name eines vor Verdun gefallenen deutschen Soldaten auf einer Gedenktafel am Beinhaus in Stein verewigt worden. Bisher war diese Ehrung ausschließlich französischen Soldaten vorbehalten. Frankreich wird im Sommer 2014 eine schier unüberschaubare Vielzahl an kleinen Gesten und lokalen Gedenkfeiern erleben - neben dem offiziösen Gedenken, auf das sich die Republik seit langem vorbereitet.
In Frankreich heißt der Erste Weltkrieg "La Grande Guerre", der große Krieg - wobei das Adjektiv "groß" erinnerungspolitisch eine klare Bedeutung hat: Als patriotische Besinnung auf das ebenso erfolg- wie opferreiche Zusammenstehen im militärischen Abwehrkampf. "Der Erste Weltkrieg erinnert uns daran, wie stark eine Nation sein kann, wenn sie zusammenhält", hat der französische Präsident François Hollande als Leitmotiv ausgegeben. Am Jahrestag des Kriegsbeginns, am 3. August, will sich Hollande mit dem deutschen Bundespräsidenten, Joachim Gauck, auf dem Hartmannsweilerkopf treffen, einem Höhenzug in den Vogesen, der schwer umkämpft war.
Einen vergleichsweise schwachen Widerhall findet die aktuelle Kriegsschulddebatte in Frankreich. Der australische Historiker Christopher Clark bestreitet in seiner Studie "Die Schlafwandler" die These von der deutschen Alleinschuld am Kriegsausbruch. Das Buch ist in Deutschland ein Besteller, in Frankreich ("Les Somnambules") nicht. Die Öffentlichkeit dort fragt nicht nach dem diplomatischen Vorlauf und den politischen Schuldzuweisungen, weil Frankreich sich nun einmal gegen angreifende deutsche Armeen auf französischem Boden verteidigen musste.
Das war in Belgien nicht anders. Und doch benutzen Belgier das Adjektiv "groß" nicht, wenn sie vom Ersten Weltkrieg sprechen. Der Blick auf das Geschehen 1914 ist vergleichsweise nüchtern; national-patriotische Untertöne wie beim Nachbarn Frankreich fehlen fast völlig. Ein Grund dafür liegt in der geteilten Erinnerung: Wallonen und Flamen zelebrieren ihr jeweils eigenes Gedenken.
Frankophone und Niederländischsprachige sind seit Jahrzehnten politisch heillos zerstritten, nun verläuft zwischen den Landesteilen auch beim historischen Rückblick eine "Frontlinie", konstatiert die Tageszeitung "Le Soir". Die Ursachen für den Zwist zwischen den belgischen Volksgruppen reichen dabei nach Einschätzung von Historikern bis in den Ersten Weltkrieg zurück: Die deutschen Besatzungsbehörden hatten Bestrebungen nach flandrischer Eigenständigkeit und nach einer kulturellen Loslösung vom französischsprachigen Landesteil gefördert.
Bei drei belgischen Gedenkstunden in Ypern, Lüttich und Brüssel will Außenminister Didier Reynders sein Land als "zentralen Platz der Erinnerung" herausstellen. Zentral auch deshalb, weil Brüssel heute als Sitz der wichtigsten EU-Institutionen zeigt, wie weit die Aussöhnung der Völker Europas geht. Für die belgischen Schlachtfelder rund um Ypern will Belgien den Status als "Weltkulturerbe" bei der UNESCO reklamieren. Eine Initiative, die gemeinsam mit Frankreich vorangebracht werden soll, wobei Paris sich um die Gedenkstätten an der Somme kümmern will.
Frankreich und Belgien sind sich auch in einem anderen Grundsatz einig: Das Gedenken an den mörderischen Stellungskrieg an der Westfront zeigt den Europäern die politische Verpflichtung, sich international zu engagieren. Das gab der französische General Elrick Irastorza zu Protokoll; als Chef des französischen Komitees zur Vorbereitung der offiziellen Gedenkfeiern nannte er den Weltkrieg einen "unverrückbaren Markstein der Erinnerung", der nun freilich zu verwittern drohe. Umso wichtiger sei es, das "Centenaire", das "Hundertjährige", zu nutzen, um allen Zweiflern an internationalen Militäreinsätzen heute vor Augen zu führen, dass auch in Europa Menschen aus fremden Ländern ihr Leben gaben, "damit wir heute in einem befriedeten Europa leben können".
Das Gedenken an den Weltkrieg in Westeuropa kommt aber manchmal auch ganz ohne Pathos aus. Vom 1. Juni an machen sich Läufer aus ganz Europa auf den Weg: Sie planen einen Staffellauf, der vom belgischen Nieuwpoort an der Küste bis ins französische Straßburg führen soll. Immer entlang der früheren Frontlinie mit Abstechern zu Gedenkstätten und Denkmälern.