Afrikas vergessenes Leid
15. Mai 2014Das imposanteste Denkmal für die afrikanischen Opfer des Ersten Weltkriegs steht nicht etwa in Afrika, sondern in Frankreich: im Wald von Delville, wo bei einer der blutigsten Schlachten mehr als 3000 südafrikanische Soldaten ums Leben kamen. John Del Monde kennt diesen Ort gut. Er ist Vorstandsmitglied der "Südafrikanischen Legion", einem Veteranenverband aus Südafrika. Zusammen mit Partnerverbänden aus anderen Commonwealth-Staaten hat er es sich zur Aufgabe gemacht, die Erinnerung an all jene Menschen aufrecht zu erhalten, die unter der Flagge des britischen Königshauses gekämpft haben.
"Zum 100. Jahrestag des Ersten Weltkriegs werden wir Gedenkveranstaltungen in Südafrika und Namibia abhalten und ein neues Denkmal im belgischen Flandern enthüllen", erzählt er. In Belgien, Frankreich, Pakistan, Nordafrika und den ehemaligen deutschen Kolonien auf dem afrikanischen Kontinent starben während des Ersten Weltkriegs rund 10.000 südafrikanische Soldaten. Die "Südafrikanische Legion" gehört zu den wenigen afrikanischen Institutionen, die dieser Opfer gedenkt. Insbesondere die schwarze südafrikanische Bevölkerung wisse nicht viel über den Krieg, bedauert Del Monde.
Rund zwei Millionen Menschen aus ganz Afrika haben die Europäer während des Ersten Weltkriegs direkt in ihre Kampfhandlungen einbezogen - als Soldaten oder als Lastenträger, in Europa oder auf afrikanischem Boden. Anfangs gab es noch Afrikaner, die sich wegen der Aussicht auf ein bescheidenes Einkommen freiwillig meldeten; ab 1915 gingen die Europäer jedoch dazu über, tausende afrikanische Männer zwangsweise zu verpflichten. Allein die Franzosen schickten aus ihren Kolonien in West- und Nordafrika 450.000 afrikanische Soldaten an die Front gegen Deutschland.
Eine Million Tote allein in Ostafrika
Als in Europa 1914 der Krieg ausbrach, bereiteten sich die englischen und französischen Truppen darauf vor, die vier deutschen Kolonien - Deutsch-Ostafrika, Deutsch-Südwestafrika, Togoland und Kamerun - in Afrika zu erobern. Besonders schlimm wütete der Erste Weltkrieg im ehemaligen Deutsch-Ostafrika: Der deutsche General Lettow-Vorbeck verfolgte dort eine Guerilla-Taktik, mit der er immer neue Gebiete in den Krieg hineinzog. Um Waffen, Munition und Verpflegung zu transportieren, waren insgesamt bis zu 200.000 Träger im Einsatz.
Der Mythos des "treuen Askaris" (Swahili für "Soldat") lebt bis heute in deutschen Geschichtsbüchern fort. In Wirklichkeit waren diese Männer entwurzelt und von der lokalen Bevölkerung verachtet. Die Arbeitskraft der Männer fehlte auf den Feldern, die Ernte konnte nicht mehr eingebracht werden oder wurde von den Truppen geplündert oder verwüstet. Die Schutztruppe brannte die Felder ab, um den nachrückenden Gegnern keine Vorräte zu hinterlassen.
Darüber, wie viele Menschen verhungerten, gibt es keine genauen Angaben. Allein für den kolonialen Verwaltungsbezirk Dodoma im heutigen Tansania wurde für 1917/18 ein Bevölkerungsverlust von 20 Prozent gemeldet. Historiker schätzen, dass in Ostafrika insgesamt rund eine Million Menschen an den Auswirkungen des Krieges starben. Die Spanische Grippe, die sich im Anschluss an den Krieg unter der geschwächten Bevölkerung ausbreitete, forderte weitere 50.000 bis 80.000 Todesopfer. "Der Krieg hat bestimmte Regionen so sehr verändert, dass sie Jahrzehnte brauchten, um sich davon zu erholen, wenn sie sich überhaupt ganz davon erholt haben", sagt Jürgen Zimmerer, Geschichtsprofessor an der Universität Hamburg.
Doch im heutigen Tansania, das einen Großteil der ehemaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika ausmacht, ist der erste Weltkrieg kein Thema mehr. Das Nationalmuseum antwortete auf Nachfrage der DW, dass keine Gedenkveranstaltungen geplant seien. In Kamerun, ebenfalls eine ehemalige deutsche Kolonie, in der mehrere tausend schwarze Soldaten und Träger ums Leben kamen, sieht das nicht anders aus. Gedenkveranstaltungen gebe es keine und auch an den Schulen werde immer weniger über den Ersten Weltkrieg gelehrt, erzählt Jean-Emmanuel Pondi, Leiter des Instituts für Internationale Beziehungen in Kameruns Hauptstadt Yaounde. "Es ist eine Erinnerung, die mehr und mehr aus unserem Gedächtnis verschwindet. Die Akteure sind längst tot. Das waren unsere Urgroßeltern!"
Neue Herren, gleiches Leid
Für Deutschland bedeutete die Niederlage im Ersten Weltkrieg auch den Verlust aller seiner afrikanischen Kolonien. Doch die wurden nicht etwa in die Unabhängigkeit entlassen, sondern neuen Herren unterstellt: den Engländern und den Franzosen. Als sich die Siegermächte im Schloss Versailles trafen, um das Ende des Ersten Weltkrieges zu besiegeln, schrieben sie das Selbstbestimmungsrecht der Völker fest. Für Afrika fand es keine Anwendung. Die extra zu diesem Zweck angereiste Delegation des Südafrikanischen Nationalkongresses wurde nicht empfangen.
"Der eigentliche Zusammenbruch der Kolonialreiche verbindet sich mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs", sagt Historiker Zimmerer. Und erst die Unabhängigkeit, die sich die afrikanischen Staaten ab Anfang der 50er Jahre nach und nach erkämpften, bedeutete für diese einen echten Wandel - und an den wird jedes Jahr mit einem Feiertag erinnert.
Ein weiterer Grund dafür, weshalb der Erste Weltkrieg in der afrikanischen Geschichtsschreibung kaum eine Rolle spielt: Er reiht sich ein in eine Vielzahl von kolonialen Eroberungszügen und Gräueltaten, unter denen die afrikanische Bevölkerung zu leiden hatte. Allein während der 75 Jahre andauernden belgischen Herrschaft im Kongo kamen bis zu zehn Millionen Menschen ums Leben. "Von daher ist das nur ein Krieg von vielen", so Zimmerer. "Der Kolonialismus war so brutal, dass selbst eine so gigantische Zahl wie eine Million nicht die Aufmerksamkeit auf sich zieht, wie sie sollte oder wie sie es nach europäischem Maßstab würde."
Was sie allerdings nicht tut - denn auch in der europäischen Gedenkkultur spielt das Leid, das Millionen Afrikaner im Ersten Weltkrieg erfahren haben, kaum eine Rolle. "Das wird pauschal so abgetan, als hätte es dort nur kleine Scharmützel gegeben, bei denen kaum jemand zu Schaden kam", so Zimmerer.